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Im Blickfeld: Nicht möglich, neutral zu sein

Von Marcus Christoph

Russland
Irpin: Soldaten tragen ein Kind in seinem Kinderwagen während der Evakuierung. Tausende Einwohner von Irpin müssen ihre Häuser verlassen und evakuiert werden, da russische Truppen die Stadt bombardieren. (Foto: dpa)

Seit zwei Wochen schaut die Welt voller Erschrecken auf den russischen Angriff auf die Ukraine. Wer hätte eine so schamlose Attacke auf einen souveränen Nachbarstaat im 21. Jahrhundert in Europa für möglich gehalten?

Ebenso sprachlos macht mich auch, wie hierzulande in bestimmten Medien und sozialen Netzwerken Personen versuchen, Putins Krieg zu relativieren oder gar zu rechtfertigen. Die eigentlich Verantwortlichen säßen nicht in Moskau, sondern in Washington beziehungsweise in Brüssel, wo die NATO ihren Sitz hat.

Anstatt den Blick auf das Leid der Menschen zu richten, die in ukrainischen Städten russischen Bomben ausgesetzt sind oder zu Hunderttausenden aus ihrer Heimat fliehen, werden Argumente gesucht, um das ideologisch verfestigte Bild, dass der politische Westen für alle Übel dieser Welt verantwortlich ist, zu verteidigen.

Zur bester Sendezeit hält der C5N-Moderator Víctor Hugo Morales Vorträge über die Ost-Erweiterung der NATO, die Russland eingeschnürt hätte. Als ob der freiwillige Beitritt zum nordatlantischen Militärbündnis von Ländern wie Polen, Ungarn oder den baltischen Staaten, die ein halbes Jahrhundert unter sowjetischer Herrschaft standen, in irgendeiner Weise vergleichbar wäre mit dem gewaltsamen Aufzwingen des russischen Willens, dem das Nachbarland Ukraine derzeit ausgesetzt ist.

Putin fühlt sich angeblich von den bislang eher geringen NATO-Kontingenten in den östlichen Ländern der Allianz bedroht. Er selbst aber ließ ab April vorigen Jahres über 100.000 Soldaten an der Grenze zur bündnisfreien Ukraine stationieren und begann mit Drohungen. Trotzdem scheinen hierzulande gerade auf der eigentlich linken Seite des politischen Spektrums nicht wenige zu glauben, die Aggression ginge vom Westen aus. Auch die Behauptung Putins, er führe in der Ukraine einen Feldzug gegen den Nazismus, wurde in der erwähnten C5N-Sendung bereits mit suggestiven Beiträgen über Rechtsextreme in der Ukraine aufgegriffen.

Als ob Putin nun ein Hoffnungsträger für eine bessere Welt im Ringen mit der kapitalistischen Welt wäre. Für eine gerechtere Gesellschaftsvision steht das heutige Russland, in dem wenige Oligarchen immensen Besitz und Einfluss angehäuft haben, nun wirklich nicht. Ganz abgesehen von dem eklatanten Mangel an Mitbestimmung und der Unterdrückung der Opposition.

Dabei könnte es durchaus zutreffend sein, dass Putin auch von Ängsten getrieben ist. Aber vermutlich sind diese nicht so sehr militärisch geprägt, sondern von der Befürchtung, demokratische Proteste wie 2020 in Belarus oder 2014 in der Ukraine könnten auch in seinem Herrschaftsgebiet um sich greifen und seine Macht gefährden. Eine Ukraine, wo sich ein demokratisches System erfolgreich in Richtung Westen entwickelt, ist eine ständige unausgesprochene Herausforderung seiner eigenen Macht.

Aber selbst, wenn all die Argumente Putins und seiner Unterstützer stimmten (was definitiv nicht der Fall ist): Nichts von dem könnte je einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg dieser Art rechtfertigen. Wenn man die Bilder von Schutz suchenden Familien in Kiewer U-Bahnhöfen, von flüchtenden Menschenmassen oder zerstörten Städten sieht, kann man eigentlich gar nicht neutral sein, wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock so nachdrücklich formulierte. Da ist es völlig zweitrangig, was die NATO bzw. die USA und Verbündeten in der Vergangenheit in Jugoslawien bzw. im Irak gemacht oder nicht gemacht haben mögen. Das kann man mittlerweile Seminaren zur Zeitgeschichte überlassen. Im Moment kann man sich nur auf die Seite der unschuldig Bedrängten stellen. Im Moment ist nicht verbohrte Ideologie, sondern konkrete Hilfe gefragt.

Die argentinische Führung hatte in den zurückliegenden Wochen angesichts des heraufziehenden Konflikts zunächst eine sehr unglückliche Rolle abgegeben. Präsident Alberto Fernández besuchte Putin Anfang Februar, als schon die Kriegsgefahr in der Luft lag und bot an, dass Argentinien das Eintrittstor Russlands nach Lateinamerika sein könnte. Ein Fall absolut fehlenden politischen Fingerspitzengefühls. Als Putin dann seine Panzer rollen ließ, fehlte ebenfalls eine klare Positionierung des argentinischen Staatschefs. Jedenfalls blieb Fernández bei seiner Rede zur Eröffnung der Kongresses eine eindeutige Verurteilung Putins schuldig. Immerhin rang sich Argentinien auf der UN-Ebene dann doch dazu durch, eine Resolution zur Verurteilung der Invasion zu unterstützen.

Auf Deutschland kommt, wenn die Kampfhandlungen sich weiter in die Länge ziehen, eine große Herausforderung zu. Zwei Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen. Nicht wenige von ihnen werden nach Deutschland kommen. Die Energiekosten dürften weiter in die Höhe schnellen. Überhaupt ist fraglich, inwieweit sich Deutschland auf die Schnelle von russischem Gas und Öl freimachen kann.

Zur Zeit weiß niemand, wo die Eskalationsspirale endet. Der Preis, den die Menschen vor Ort für die Machtpolitik alten Stils zahlen, ist schon jetzt viel zu hoch. Bleibt zu hoffen, dass der ukrainische Widerstand zäh und die Sanktionen des Westen hart genug sind, um Putin erkennen zu lassen, dass auch er nur verlieren kann, je länger die Invasion andauert, und es zu ernstgemeinten Verhandlungen kommt. Dass Putins Ansehen im eigenen Land ähnlich Schaden nimmt wie einst das der Militärjunta in Argentinien nach dem desaströsen Malwinenkrieg und so der Weg frei wird für eine demokratische Erneuerung. Dass die große russische Nation eines Tages einmal Teil eines gemeinsamen europäischen Hauses wird, wie es in der Zeit nach dem Mauerfall geträumt wurde. Doch dies alles ist reines Wunschdenken. Die Gegenwart ist Krieg.



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