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Im Blickfeld: Krieg und Corona - 100 Tage "Ampel"-Koalition

Von Klaus Blume

Das hätte sich bis vor kurzem wohl kaum jemand vorstellen können: Ein sozialdemokratischer Bundeskanzler, der den deutschen Wehretat auf Rekordhöhen schraubt, grüne Politiker, die noch einmal über einen längeren Betrieb der letzten Atomkraftwerke diskutieren müssen, und eine Regierung in Berlin, die Panzerfäuste und Luftabwehrraketen in ein Kriegsgebiet dicht vor der eigenen Haustür liefert. Vieles hat sich geändert in Deutschland, seit Russland Ende Februar die Ukraine angegriffen hat.

Der Ukraine-Krieg wird, neben der nicht endenden Corona-Pandemie, zur Bewährungsprobe für die neue deutsche Regierung, die gestern 100 Tage im Amt war. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagte Scholz in einer Regierungserklärung im Bundestag drei Tage nach dem russischen Einmarsch ins Nachbarland. In diesen kriegerischen Zeiten rücken Scholz' Regierungspartner enger zusammen. Wie weit seine Koalition, die unter dem Motto "Mehr Fortschritt wagen" antrat, ihr Programm verwirklichen kann, bleibt abzuwarten.

Am 8. Dezember war Scholz vom Bundestag zum Kanzler gewählt worden, als Nachfolger der langjährigen Regierungschefin Angela Merkel, die bei der Bundestagswahl nicht mehr kandidiert hatte. Da die Christdemokraten mit dem damaligen Parteichef Armin Laschet einen schwachen Kanzlerkandidaten ins Rennen geschickt hatten, schaffte es die SPD, ihren Rückstand in den Umfragen aufzuholen und die Wahl am 26. September mit knappem Vorsprung zu gewinnen.

Von einer absoluten Mehrheit weit entfernt, schmiedete Scholz ein Dreier-Bündnis aus SPD, Grünen und Liberalen, das in Deutschland wegen der Parteifarben Rot, Gelb und Grün "Ampel-Koalition" genannt wird. Auf Bundesebene ist es eine Premiere, und auch von den 16 Bundesländern wird derzeit nur eines - Rheinland-Pfalz - von einer "Ampel" regiert. Trotz der weltanschaulichen Differenzen zwischen SPD und Grünen auf der einen und der marktliberalen FDP auf der anderen Seite kamen die Koalitionsverhandlungen im Herbst zügig voran, auch weil alle drei Seiten kompromissbereit waren. Am 24. November wurde der fast 180 Seiten starke Koalitionsvertrag unterzeichnet.

Vorgenommen hatten sich die "Ampel"-Partner unter anderem, den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland auf 12 Euro pro Stunde zu erhöhen (derzeit 9,60 Euro), den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung zu verdoppeln, den Verkauf von Cannabis an Erwachsene zu erlauben, das Familienrecht zu modernisieren, die Hartz-IV-Hilfen für Langzeitarbeitslose durch ein Bürgergeld zu ersetzen und die Einbürgerung von Ausländern zu erleichtern. Um schneller neue Windkraftanlagen für die "Energiewende" errichten zu können, sollen Planungsverfahren beschleunigt werden. Zum Mindestlohn gibt es einen Kabinettsbeschluss, aber vieles steht noch aus.

"Die "Ampel" hat bisher keine Gelegenheit gehabt, das, was im Koalitionsvertrag vereinbart war, auch nur anzustoßen", sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer der Deutschen Presse-Agentur. Die Corona-Pandemie und der Krieg hätten die anderen Themen überlagert. "Aber die Fähigkeit, auf Neues zur reagieren und Althergebrachtes über Bord zu werfen, da waren sie sehr gut drin", befindet Neugebauer.

Im Kampf gegen das Coronavirus war die "Ampel" bisher wenig erfolgreich. Das Ziel der Bundesregierung, bis Ende Januar 80 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal zu impfen, wurde bis heute nicht erreicht, Ende voriger Woche lag die Quote bei knapp 77 Prozent. Auch eine Impfpflicht ab 18 Jahren, wie sie sowohl Scholz als auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) befürworten, wurde bisher nicht eingeführt. Dem Bundestag liegen mehrere Entwürfe vor, die Abgeordneten sollen ohne Fraktionsvorgaben frei entscheiden.

Mit ihrem entschlossenen Agieren in der Ukraine-Krise hat die "Ampel"-Regierung aber laut Umfragen Vertrauen unter den Deutschen zurückgewonnen. Hatten die Medien in den ersten Wochen noch "Wo ist Scholz?" gespottet, so wird der Kanzler nun als führungsstark wahrgenommen. "Zu den erstaunlichsten Wandlungen dieser Tage zählt die des Olaf Scholz", schrieb das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".

Laut jüngstem ARD-Deutschlandtrend sind 56 Prozent der Wahlberechtigten mit der Arbeit der Koalition zufrieden, das ist ein Plus von 18 Prozentpunkten im Vergleich zu Februar. Neben Scholz konnte auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), die zuvor keinerlei Regierungserfahrung hatte, deutlich zulegen. Selbst CDU-Politiker lobten Baerbocks Auftritt vor der UN-Vollversammlung Anfang März. "Von der peinlichen Kanzlerkandidatin zu Deutschlands Gesicht der Krise", schrieb die konservative Tageszeitung "Die Welt". Mit Baerbock als Spitzenkandidatin hatten die Grünen bei der Bundestagswahl nur 14,8 Prozent geholt, nachdem sie in Umfragen lange Zeit über der 20-Prozent-Marke gelegen hatten.

In den Umfragen liefern sich Scholz' SPD und die unter ihrem neuen Anführer Friedrich Merz wieder erstarkten Christdemokraten derzeit ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Das erste reale Kräftemessen steht mit der Landtagswahl im Saarland am 27. März an, es folgen Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Mai.

Obwohl es in den ersten 100 Tagen auch manche Reibereien zwischen den "Ampel"-Partnern gab, gibt es derzeit keine Anzeichen, dass die Koalition nicht vier Jahre hält. "Jede Partei will sich profilieren, aber keine will sich mit dem Etikett behaften, die Koalition kaputt gemacht zu haben", meint Neugebauer. (dpa)


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