Von Stefan Kuhn
Es sind verstörende Bilder: Brennende Barrikaden, geplünderte Geschäfte, verletzte Menschen... In niederländischen Städten hat es an mehreren Tagen in Folge gewalttätige Proteste gegeben. Auslöser war eine von der Regierung wegen sprunghaft angestiegener Corona-Infektionen verhängte Ausgangssperre, die von 21 bis 4.30 Uhr gilt und bis zum 7. Februar dauern soll. Vor allem junge Männer wollen mit Steinen und Feuerwerkskörpern ihr "Grundrecht" auf Saufen und Party durchsetzen. Eine Ausnahmeerscheinung sind die Vorfälle in den Niederlanden nicht. In Stuttgart und Frankfurt gab es im vergangenen Jahr ähnliche Ausschreitungen, wenn auch in bescheidenerem Ausmaß. Ebenso in mehreren italienischen und französischen Städten.
Es gibt derzeit auch andere Bilder, sie kommen aus Wuhan, wo die Pandemie vor einem Jahr zum ersten Mal sichtbar ausbrach. Dort feiern junge Menschen ohne Mundschutz in überfüllten Diskotheken. Das sind natürlich gewollte Bilder. Sie transportieren die Botschaft der chinesischen Staatsführung: "Wir haben alles richtig gemacht." In China ist diese Botschaft angekommen, und die Zahlen sprechen für sich. Auch dort gibt es eine zweite Welle bei der es bisher landesweit rund 2000 Neuinfektionen gab. Selbst wenn diese offizielle Zahl zehn Mal höher läge, wäre sie bei 1,4 Milliarden Einwohnern verschwindend gering. Deutschland hatte in den letzten Wochen teilweise Tageswerte von über 30.000. Auch die Wirtschaft brummt in China wieder.
Die Botschaft kommt nach und nach auch in Europa an. Es gibt inzwischen viele, die sich einen Lockdown nach chinesischem Muster wünschen. Zwei Monate alles bis auf das notwendigste dicht, um die Neuinfektionen auf ein Minimum zu reduzieren. Ständig lockern und wieder verschärfen bringt der Wirtschaft keine Planungssicherheit und trägt viel zur Coronamüdigkeit der Bevölkerung bei.
Doch die chinesische Methode ist für westliche Demokratien ungeeignet. Sie ist weder bei der Bevölkerung noch vor Gerichten durchsetzbar. Zum Glück, denn in China werden ganze Dörfer in Quarantänestationen verlegt oder Wohnblöcke abgeriegelt, wenn dort nur Verdachtsfälle bestehen. Man mag sich die Haare raufen, wenn etwa ein deutsches Gericht sinnvolle Regeln zur Eindämmung der Infektionen kippt, weil sich jemand in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlt. Doch das gehört ebenso zu einem Rechtsstaat wie die Möglichkeit, Verschwörungstheorien als Meinungsfreiheit zu deklarieren.
Man kann die Pandemiebekämpfung nicht zu einem Wettstreit der politischen Systeme machen wie die chinesische Führung das tut. Autoritäre Staaten haben in dieser Hinsicht zwar Vorteile, der individuelle Widerstand ist gering, die Kontrolle der Bevölkerung institutionalisiert. Eine Gesundheitsapp auf dem Smartphone wie in China wäre in anderen Staaten aus Datenschutzgründen nicht durchsetzbar. Allerdings schützen autoritäre Regimes nur vor Corona, wenn sie die Gefahr erkannt haben. Russland, der Iran oder Saudi-Arabien haben erschreckend hohe Infektionszahlen. Auf der anderen Seite gibt es demokratische Staaten wie Australien, Neuseeland oder Taiwan, die die Pandemie ohne drakonische Maßnahmen in den Griff bekommen haben.
Vernunft dürfte eine größere Rolle spielen als staatlicher Druck. In vielen Staaten nehmen zu viele Menschen Corona nicht ernst. Vor allem die USA, wo Covid-Leugnung unter dem Ex-Präsidenten Donald Trump eine politische Doktrin war, sind davon betroffen. Ebenso Brasilien und bei Pandemiebeginn auch das Vereinigte Königreich. Der konservative Premier Boris Johnson hat das Virus bis zu seiner eigenen Erkrankung verharmlost und wertvolle Zeit bei der Bekämpfung verloren. In Deutschland und anderen Ländern hat die Vernunft noch eine deutliche Mehrheit. Doch das ist bedeutungslos, wenn sich zu viele den Schutzmaßnahmen verweigern. In China und Taiwan haben die Menschen Angst vor der Krankheit. Dort sind während der SARS-Pandemie (2002/2003) viele Menschen gestorben. Damals wurden die Maskenmenschen in Ostasien belächelt, Heute schüttelt man in China den Kopf über westliche Maskenverweigerer. Die ersten, die vor knapp einem Jahr in Argentinien Masken trugen, waren die Beschäftigten in chinesischen Supermärkten. Das war keine Hysterie, sondern Vernunft.
Wichtig bei der Bekämpfung war auch der Zustand des Gesundheitssystems. Die Zahl der Intensivbetten, der Beatmungsgeräte und des Pflegepersonals. Vielerorts fehlten essentielle Dinge wie Schutzmasken, Schutzkleidung und Tests. In vielen Ländern wurde der Gesundheitssektor kaputtgespart. Großbritannien ist in dieser Hinsicht am meisten betroffen. Gemessen an der Bevölkerungszahl hat das Land auch die meisten Todesopfer zu beklagen. Mit dem politischen System hat die Gesundheitsversorgung allenfalls am Rande zu tun.
China ist kein Vorbild für die Pandemiebekämpfung, obwohl man durchaus von den Chinesen gelernt hat und noch lernen kann. Man muss sicher nicht bei Verdachtsfällen ganze Dörfer deportieren, aber allein das Wort Quarantäne könnte ähnlich wie in China dem Wortsinn nach interpretiert werden. Wenn jemand positiv getestet wurde, muss er isoliert werden bis er kein Infektionsrisiko mehr darstellt. Das ist keine Freiheitsberaubung, sondern effektiver Schutz der Bevölkerung. Wie das durchgeführt wird, darüber kann man diskutieren. Jemanden in häusliche Quarantäne zu schicken, wie das in den meisten Ländern üblich ist, trägt mehr zur Verbreitung des Virus als zu dessen Bekämpfung bei. Zu Hause können Familienmitglieder oder Nachbarn angesteckt werden, auf die Vernunft und das Verantwortungsgefühl kann man sich hier nicht verlassen.
Zu Beginn der Pandemie waren diese Tugenden noch recht ausgeprägt. Inzwischen hat man das Gefühl, das Appelle, Bitten und Flehen bei vielen nicht mehr ankommen - bei zu vielen. Mit China ist das nicht vergleichbar, denn dort gibt es keine Appelle, sondern Maßnahmen. Und die werden eingehalten. Vermutlich spielen Untertanengeist und Angst vor Repressalien eine ähnlich große Rolle wie die Vernunft, aber auch in westlichen Demokratien gibt es Maßnahmen und Regeln bei der Corona-Bekämpfung. Sie sind, das mag man beklagen, weniger strikt als in China. Aber es würde schon helfen, wenn deren Respektierung und Einhaltung konsequent durchgesetzt würde.
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