Von Julia Sydow*
Es gab eine Zeit, in der ich die exzentrische Art der Briten charmant fand. Eine Zeit, in der ich mit ihnen friedlich und ohne allzu große Frustrationen auf der Insel lebte. Ja, ich beneidete sie sogar darum, direkte Demokratie ausüben zu können und ein Mitspracherecht um ihren Verbleib in der EU zu haben. Denn es war ohnehin für mich und alle meine europäischen Freunde in London klar, dass die Briten sich entscheiden würden, in der EU zu bleiben. Für uns bestand kein Zweifel daran, dass das Land stark von seiner EU-Mitgliedschaft profitiert hatte, und es genau dieses Miteinander war, was Britannia wieder Great gemacht hatte.
Offensichtlich sahen das jedoch nicht alle Briten so. Der Ausgang des Referendums in 2016 und die geschmacklose und verlogene Wahlkampagne bestätigte dies. Dabei war es kaum ein Trost, dass das Ergebnis nur so knapp ausfiel. Oder dass das Referendum nur abgehalten wurde, damit David Cameron seine politische Karriere und seine Partei retten konnte. Also von wegen direkte Demokratie aus der Liebe zum Volk. Scheinheiligkeit und Machtkalkül, allein darum ging es.
Und darum ging es dann auch im weiteren Verlauf der Brexit-Odyssee, zunächst mit Theresa May und nun mit Boris Johnson. Schlecht, schlechter, apokalyptisch - so könnte man die Rangfolge der britischen Premierminister bezeichnen. Und somit ist es dann auch gut, dass ich London, meiner Heimat der letzten acht Jahre, den Rücken gekehrt habe. In einem Land, in dem ein Donald Trump-Klon sein sprichwörtliches Unwesen treibt, möchte ich nicht leben. Die letzten Jahre mit May an der Macht waren schon deprimierend genug.
Brexit heißt Brexit, hörte man immer von ihr. Aufgrund ihrer monotonen und repetierenden Phrasen wurde sie von der britischen Presse als Maybot verhöhnt. Aber wie denn Brexit genau aussehen sollte, das war leider keinem, weder dem Parlament noch der Nation und vor allem ihr selbst nicht klar. Hauptsache Brexit. Denn wenn man sich aus den Zwängen der EU befreit hat, dann kann das Land wieder zu einer Großmacht werden und die Welt beherrschen. Schließlich ist es nur die Schuld der EU, dass Großbritannien kein Kolonialreich mehr ist.
An so einen Schwachsinn glauben leider viel zu viele Briten. Dabei sieht man großzügig darüber hinweg, dass die Bürgerkriege im Nahen Osten, der Konflikt in Palästina oder die Verfolgung von Minderheiten in vielen Ländern Britisch-Indiens auf die frühere Kolonialmacht zurückzuführen sind. Aber was soll`s, am Ende sind es die Immigranten, die an allem schuld sind. Der Europäer kommt und nimmt den Briten die Arbeitsplätze weg und den Sozialstaat aus. Auch diese Propaganda trifft auf offene Ohren. Dabei wird dann ebenfalls wieder vergessen, dass Großbritannien im Vergleich zu Deutschland etwa, wenig mit einem Sozialstaat zu tun hat und die Jobs, die Europäer machen, der gemeine Brite entweder nicht machen will oder aber auch nicht kann, weil er, aufgrund des elitären und völlig unsozialen Bildungsmodells des Landes im Nachteil zu den Europäern ist, die mehrsprachig sind und die die Möglichkeit hatten zu studieren, weil es nicht Tausende von Euros pro Jahr kostet.
Großbritannien lebt in der Vergangenheit, in der es schwelgt. Wenn die Briten im Hier und Jetzt leben würden, dann würde es womöglich keinen Brexit geben. Wenn Politiker sich moralisch verpflichtet sehen würden, im Interesse des Landes zu handeln anstatt Eigennutz und Selbstsucht zum Maßstab ihres Handelns zu machen, dann wäre es nie zum Referendum gekommen. Brexit hat eine Nation tief gespalten. Europäer, die das Land noch nicht verlassen haben, sind seit Jahren zutiefst verunsichert und verärgert. Die Stimmung ist getrübt, die Wirtschaft und die Währung in Talfahrt. Die Lebenshaltungskosten, die schon immer hoch waren, werden unerschwinglich und die Lebensqualität immer schlechter. Bestimmte Waren verschwinden aus den Supermarktregalen und werden mit amerikanischen Marken zum dreifachen Preis ersetzt. Und wenn der Ersatz-Trump nun mehrheitlich in seinem Amt bestätigt wird, dann wird der Einfluss der USA noch größer. Boris Johnson wollte nicht, dass Großbritannien ein Vasallenstaat der EU ist, aber das Land der USA zu unterwerfen, damit scheint er kein Problem zu haben.
Zum Glück ist all dies nicht mehr mein Problem. Ich muss mich nicht mehr über verlogene und narzisstische Politiker und eine stoische Gesellschaft aufregen, die stillschweigend alles erträgt. In all den Jahren hatte ich gehofft, dass das Land doch noch zur Vernunft kommen würde und den Brexit-Schwachsinn sein lassen würde. Selbst im Angesicht der drohenden politischen Apokalypse, die in aller Voraussicht mit dem Wahlsieg Boris Johnsons am Donnerstag beginnt, habe ich nur noch eine vage Hoffnung, dass es am Ende keinen Brexit gibt. Denn die Bestrebungen, sich von der EU trennen zu wollen, sind alles andere als exzentrisch und charmant.
*Nach acht Jahren in London lebt Tageblatt-Mitarbeiterin Julia Sydow seit Anfang November in Buenos Aires
Comments