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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: In Europas Hinterzimmern

Von Stefan Kuhn

Schaut man sich die Kommentare europäischer Zeitungen zur Einigung in der EU-Personaldebatte an, kommt man schon ins Schmunzeln. Das Warschauer Blatt „Rzeczpospolita“ sieht in der Einigung der Regierungschefs auf die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Kommissionschefin einen „vollen Triumph“ der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Amsterdamer Tageszeitung „Volkskrant“ hält die Kanzlerin für die „größte Verliererin“. Der „Münchner Merkur“ stellt gar die steile These auf, dass Merkel mit dem CSU-Mann Manfred Weber und dem Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann als EZB-Chef in einer Nacht „zwei nationale Hoffnungsträger auf einen Streich erledigt hat“. Das ist natürlich Unsinn. Nicht einmal der CSU-nahe Münchner Merkur kann glauben, dass die beiden EU-Spitzenposten an zwei Deutsche vergeben worden wären.

Es ging auch nicht im Ansatz darum, ob Merkel gewonnen oder verloren hat. Deutschland hat gewonnen. Nach über einem halben Jahrhundert steht wieder jemand aus Deutschland an der Spitze der Europäischen Kommission. Erster Präsident der damaligen EWG-Kommission war von 1958 bis 1967 der CDU-Politiker Walter Hallstein. Man mag darüber streiten, ob der Chefposten der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht doch etwas wichtiger gewesen wäre, politisch bedeutender ist die Kommissionspräsidentschaft. Von der Leyen wird eine Art europäische Regierungschefin. Mit der Französin Christine Lagarde, die bisher dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vorstand, wurde auch eine kompetente Frau für den EZB-Chefsessel gefunden. Man kann es durchaus als Fortschritt sehen, dass die beiden wichtigsten EU-Posten künftig von Frauen besetzt werden.

Verloren hat nicht Merkel, sondern die europäische Demokratie. Es ist schon grob fahrlässig, dass die EU-Regierungschefs nach diesen Europawahlen, an denen mehr Bürgerinnen und Bürger teilgenommen haben als je zuvor, plötzlich wieder vom Spitzenkandidatenprinzip abrücken. Es sah vor, dass die europäischen Parteien Spitzenkandidaten aufstellen, unter denen das EU-Parlament den Kommissionspräsidenten wählt. Das ist (noch) eine informelle Regel. Vor fünf Jahren folgten ihr die Regierungschefs. Der Luxemburger Jean-Claude Juncker, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), der auch CDU und CSU angehören, ist der amtierende Präsident der EU-Kommission.

Die EVP wurde wie vor fünf Jahren wieder stärkste Fraktion im EU-Parlament. Ihr Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) durfte sich Hoffnungen auf die Präsidentschaft machen. Er scheiterte am Widerspruch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der das Prinzip der Spitzenkandidaten ablehnt. Die liberale Fraktion, der auch Macrons Partei „République en Marche“ angehört, hat aus diesen Gründen auch keinen Spitzenkandidaten aufgestellt. Warum Macron Weber ablehnt und dessen (Fast-)Parteifreundin von der Leyen nicht, wird sein Geheimnis bleiben. Es ist aber eine Missachtung der Entscheidung von fast einem Viertel der europäischen Wählerinnen und Wähler, die ihre Stimme der EVP gegeben haben. Ausgerechnet der große Europa-Visionär Macron verfällt hier in nationale Egoismen.

Die alleinige Schuld trägt Frankreichs Präsident allerdings nicht. Den von Merkel vorgeschlagenen Frans Timmermans, den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, hätte er akzeptiert. Der Niederländer hatte immerhin ein Fünftel der Wähler hinter sich und hätte im EU-Parlament mit den Stimmen der Linken, Grünen und Liberalen gewählt werden können. Timmermans war aber unter den 28 Regierungschefs nicht mehrheitsfähig. Vor allem im Osten der EU wurde der Sozialdemokrat abgelehnt. So kam es zur deutsch-französischen Hinterzimmerentscheidung für von der Leyen und Lagarde.

Auch die anderen Posten wurden gerecht verteilt. Der Belgier Charles Michel wird als Nachfolger des Polen Donald Tusk EU-Ratspräsident. Der Spanier Josep Borell übernimmt von der Italienerin Federica Mogherini den Posten des Außenbeauftragten, der italienische Sozialdemokrat David-María Sassoli wurde Präsident des Europäischen Parlaments. Er übergibt den Posten in zweieinhalb Jahren an Manfred Weber, der beim Personalpoker am meisten verloren hat.

Beendet ist die Debatte allerdings noch nicht. Ganz kampflos wird sich das Europaparlament nicht vom Prinzip der Spitzenkandidaten verabschieden. Ursula von der Leyen ist noch nicht gewählt. Die Stimmen der EVP dürfte sie hinter sich haben. Deren Fraktionschef Manfred Weber beugt sich der Parteidisziplin. Die Liberalen dürften von der Leyen ebenso unterstützen, Macrons REM stellt die meisten Abgeordneten in der Fraktion. Dagegen sind vor allem die deutschen Sozialdemokraten, Merkels Koalitionspartner. Deshalb musste sich die Kanzlerin bei der Abstimmung über von der Leyen im EU-Rat enthalten.

Es geht nicht um von der Leyen, für die Sozialdemokraten ist die Personalie sogar angenehmer als Weber. Es geht ums Prinzip. Darum, dass man Zig-Millionen Wählerinnen und Wählern nicht einfach sagen kann: Wie ihr abgestimmt habt, ist uns so was von egal...

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