Von Stefan Kuhn
Schon wieder ein Rekord, ein unerfreulicher. 736 Mitglieder hat der neue Bundestag. Das sind 27 mehr als vor vier Jahren und 105 mehr als 2013. Inzwischen hat Deutschland das größte demokratisch gewählte Parlament. Bei der Größe des Landes ist das fast schon peinlich. Zum Vergleich: Das mit dem Bundestag vergleichbare indische Unterhaus (Lok Sabha) hat 545 Abgeordnete und Indien fast 17 mal mehr Einwohner als Deutschland. Inzwischen zahlen die Deutschen für ihre Volksvertretung fast eine Milliarde Euro pro Jahr.
Theoretisch müsste der Bundestag 598 Mitglieder haben. 299 werden direkt in den Wahlkreisen gewählt, die andere Hälfte über Landeslisten. Personalisiertes Verhältniswahlrecht heißt diese typisch deutsche Wahlform. Sie vereint die Vorteile des Mehrheitswahlrechts mit denen des Verhältniswahlrechts.
Bis zur Wiedervereinigung funktionierte dieses System recht gut. Das lag daran, dass die politische Landschaft von zwei großen Parteien dominiert wurde. Die Unionsparteien und die Sozialdemokraten holten alle Direktmandate. Dafür war in einem Wahlkreis in der Regel ein Stimmenanteil von mindestens 40 Prozent nötig. Es entstanden wenig Überhangmandate, die immer anfallen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr eigentlich zustehen. Früher geschah das häufig in Bayern und Baden-Württemberg, wo die Unionsparteien regelmäßig alle Wahlkreise holten, aber nicht über 50 Prozent der Zweitstimmen erhielten. Diese Überhangmandate wurden nicht ausgeglichen. Auf der anderen Seite bekamen Parteien zusätzliche Listenmandate, wenn sie mehr als 50 Prozent der Zweitstimmen erreichten.
Mit der Wiedervereinigung änderte sich auch die Größe des Parlaments. Es gab nun 328 Wahlkreise, das heißt der Bundestag hatte eine Normgröße von 656 Mitgliedern. Bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen wurde sie mit 662 Abgeordneten nur geringfügig überschritten, vier Jahre später waren es bereits 672. Man näherte sich der 700er-Marke. 2002 kam es zu einer Neueinteilung der Wahlkreise, die Zahl wurde auf 299 verringert. 603 Abgeordnete saßen nach den Wahlen im selben Jahr im Bundestag. Mit drei Überhangmandaten konnte man leben, aber es wurden ständig mehr. Es kam die Gefahr auf, dass bei knappen Wahlergebnissen, die unterlegene Partei eine Mandatsmehrheit im Bundestag erhält. Das Bundesverfassungsgericht schritt ein. Daraufhin einigten sich die Parteien 2012 darauf, die Überhangmandate durch zusätzliche Mandate für die anderen Parteien auszugleichen. Das heißt, diese bekommen so viele Ausgleichsmandate bis der Proporz wieder hergestellt ist.
Das können ganz schön viele sein, wie man sieht. 2021 sind es 138 Abgeordnete mehr als die Wunschgröße. Pessimisten rechneten schon mit 850 und mehr.
Sicher ist, dass es in nächster Zeit noch mehr werden können, denn die großen Parteien dominieren nach wie vor die Wahlkreise, kommen aber beim Zweitstimmenanteil auf Werte unter 30 Prozent. Es ist klar, dass man die Zahl der Wahlkreise verringern muss, wenn man das Problem des ausufernden Parlaments in den Griff kriegen will. Allerdings reicht das nicht. Es ist dringend nötig, den Anteil der Direktmandate an der Zusammensetzung des Bundestags zu verringern. Beim ersten Bundestag 1949 gab es einen Anteil von 60 Prozent Direktmandaten zu 40 Prozent Listenplätzen. Aber damals gab es auch eine Menge Verfechter eines reinen Mehrheitswahlrechts, wie es etwa in Großbritannien existiert. Seit 1953 ist das Verhältnis 50:50, heute müsste es 40:60 oder besser 35:65 sein. Natürlich schwächt man dadurch die „personalisierte“ Komponente ab, aber durch Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es schon jetzt eine Schieflage. Derzeit sitzen 40 Prozent direkt gewählte Abgeordnete im Bundestag.
Das setzt natürlich eine drastische Verringerung der Wahlkreise voraus. Wären es 240 Wahlkreis- und 360 Listenmandate, käme man auf eine erträgliche Zahl von 600 Abgeordneten, und die Überhangmandate dürften sich deutlich reduzieren, zumal der Gewinn von Direktmandaten inzwischen nicht mehr ein Privileg von CDU/CSU und SPD ist. 2021 gewannen die kleinen Parteien 35 der 299 Direktmandate. 16 gingen an die Grünen, 16 an die AfD und drei an die Linke.
Das größte Problem an einer Wahlrechtsreform sind die unterschiedlichen Interessen der Parteien. Bisher hat sich die Union am stärksten dagegen gewehrt. Das lag auch daran, dass CDU und CSU am stärksten von Überhangmandaten profitieren. In Bayern kam die CSU nur auf einen Zweitstimmenanteil von 31,7 Prozent, gewann aber bis auf einen alle Wahlkreise. Die Christsozialen konnten 45 statt 30 Abgeordnete nach Berlin schicken. Das sind 15 Posten mehr, die für Parteifreunde vom Staat finanziert werden. Das gilt natürlich auch für die Ausgleichsmandate anderer Parteien. Alle Parteien profitieren von den aufgeblähten Bundestagen, die kleinen zumindest personell etwas weniger.
Bisher gibt es Pläne die Zahl der Wahlkreise auf 280 zu verringern und drei Überhangmandate nicht mehr auszugleichen, doch das greift zu kurz. Ohne einen brutalen Schnitt lässt sich die Zahl der Abgeordneten nicht dauerhaft reduzieren. Dass sie reduziert werden muss, darüber gibt es in der Bevölkerung eine deutliche Meinung.
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