Von Wim van Geenen
Noch bis in die Neuzeit wurde für Kirchenvertreter im Falle rechtlicher Auseinandersetzungen automatisch das Kirchenrecht angewandt, also das selbst gesetzte Recht der Kirche. Das änderte sich erst mit der Herausbildung der modernen Nationalstaaten im 18. Jahrhundert: Nun galt auf einem abgegrenzten Gebiet dieselbe staatliche Rechtsordnung für alle Personen. Kirchenmauern und Ordensgewänder schützten (zumindest in der Theorie) nicht mehr davor, nach weltlichen Gesetzen verurteilt zu werden.
Wie sehr sich die katholische Kirche dennoch bis ins 21. Jahrhundert von „weltlicher“ Rechtsprechung unberührbar wähnte, zeigt jenes Gutachten, das die Münchner Kanzlei „Westpfahl Spilker Wastl“ vergangene Woche zu den Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising vorgelegt hat. Auf über 1800 Seiten nimmt das Gutachten Verantwortlichkeiten und systemische Ursachen des vielfachen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in den Blick. Es zeigt das Innere der Kirche als Täter-Netzwerk, in dem geschwiegen, gedeckt und vergessen, an vielen Stellen auch aktiv vertuscht wird.
Bereits die Zahlen sprechen für sich: Anhand von Vorwürfen gegenüber 261 Personen gehen die Gutachter von mindestens 497 Geschädigten allein in der Diözese München und Freising aus. 65 Fälle, in denen die Vorwürfe als erwiesen gelten, werden im Gutachten im Hinblick auf Verantwortlichkeiten detailliert behandelt. Bei 146 weiteren Sachverhalten sehen die Gutachter die Vorwürfe als „plausibel“ an. Von kirchlicher Seite kam es im Untersuchungszeitraum von 1945 bis 2019 zu 14 Voruntersuchungen, fünf Meldungen nach Rom und gerade einmal zwei (!) kirchlichen Strafverfahren. Dass angesichts dieser Zahlen niemand ein strukturelles Problem erkannt haben will, ist schlicht unglaubwürdig, zumal die Aufklärung der Fälle teils aktiv verhindert wurde.
Die 65 genauer beschriebenen Fälle erzählen in diesem Sinne eine Geschichte organisierter Verantwortungslosigkeit. Die Perspektive der Betroffenen kommt bei den Verantwortlichen nicht vor; von den Gutachtern untersuchte Schriftstücke belegen jedoch in vielen Fällen eine eindeutige Komplizenschaft der Kirchenfunktionäre. „Halte in Geduld aus, bis Deine Stunde gekommen ist und Du wieder in den normalen Seelsorgedienst zurückkehren darfst“, so zitiert das Gutachten aus einem Brief eines Generalvikars an einen des Missbrauchs überführten Priester. Die Polizei wurde damals nicht eingeschaltet.
Dieses Muster wiederholt sich in beinahe allen Fällen: Sobald eine Tat öffentlich zu werden drohte, wurde der Täter versetzt oder zeitweise in ein Kloster geschickt. Die teils bereits mehrfach verurteilten Täter wurden häufig nur kurze Zeit später wieder in der Jugendseelsorge oder als Religionslehrer eingesetzt. Die kirchlichen Stellen bemühten sich zuweilen aktiv um Begnadigungen verurteilter Missbrauchstäter, meldeten bekannte Fälle aber nur in den wenigsten Fällen an staatliche Behörden. Für die Kirchenmänner ging es um den „Schutz“ der eigenen Institution, staatliche Ermittlungen wurden, dem Gutachten zufolge, noch bis Mitte der 2000er Jahre primär als „Ärgernis“ wahrgenommen.
Als besonders brisant darf jenes Kapitel des Gutachtens gelten, das die persönliche Verantwortung von Josef Ratzinger (dem späteren Papst Benedikt XVI.) behandelt. Dieser war von 1977 bis 1982 Erzbischof der Diözese. Von den Anwälten zusammengetragene Dokumente belegen zweifelsfrei, dass Ratzinger als Führungskraft von mehreren Missbrauchsfällen Bescheid wusste und nicht angemessen handelte.
Ratzinger selbst betont zu Beginn seiner 82-seitigen Stellungnahme, sich trotz seines guten Langzeitgedächtnisses an nichts Verwertbares erinnern zu können (und musste dies bereits diese Woche teilweise zurücknehmen). Im weiteren Verlauf gibt Ratzinger dann eigene kirchenrechtliche Bewertungen zu den Fällen ab. In einem Fall seien beispielsweise „sündhafte Handlungen gegen das sechste Gebot mit Minderjährigen“ auch nach Kirchenrecht strafbar gewesen, dazu sei es jedoch gar nicht gekommen, da es in dem entsprechenden Fall um „exhibitionistische Handlungen vor Minderjährigen, nicht jedoch um Handlungen mit Minderjährigen“ gegangen sei.
Auf hundertfache Missbrauchsvorwürfe innerhalb der eigenen Institution mit einer Interpretation des sechsten Gebots inklusive kirchenrechtlicher Spitzfindigkeiten zu antworten, ist, allen Mitleidsbekundungen zum Trotz, nichts als Hohn und Spott gegenüber den Betroffenen. Das Kirchenrecht hilft den Betroffenen keinen Meter weiter - es hat, ganz im Gegenteil, den Missbrauchskomplex erst mit ermöglicht. Es wird daher Zeit, dass die Kirche echte Verantwortung übernimmt. Dafür müssen die Betroffenen endlich umfassend gehört, Akten geöffnet und Verantwortliche aus dem Dienst entfernt werden. Die Staatskirchenverträge und die entsprechenden Grundgesetzartikel, welche es den Kirchen erlauben, ihre „Angelegenheiten“ selbstständig zu ordnen und zu verwalten, müssen dahingehend reformiert werden, dass die Kirche ihre bestehenden Privilegien verliert und sich der de-facto rechtsfreie Raum innerhalb der Kirche schließt.
Dass sexuelle Übergriffe überwiegend als „interne Angelegenheit“ betrachtet werden, war und ist ein unerträglicher Zustand. Die staatlich gesicherte Religionsfreiheit ist dazu gedacht, die Freiheit der Religionsausübung zu sichern - nicht aber, um übergriffige Pfarrer vor Strafverfolgung zu schützen. Es hat sich ein weiteres Mal gezeigt, dass männerbündische Organisationen nicht in der Lage sind, effektiv gegen eigene Mitglieder vorzugehen. Falsch verstandene Brüderlichkeit wird in diesem Fall zu Mittäterschaft.
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