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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Grund zur Freude

Von Marcus Christoph

Vor 30 Jahren war es ein Freudenfest. Als in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 Hunderttausende vor dem Berliner Reichstag mit Feuerwerk, Nationalhymne und Läuten der Freiheitsglocke die Verwirklichung der deutschen Einheit feierten, waren die Deutschen im Glück vereint. Ein nicht mehr für möglich gehaltenes Happy End nach vier Jahrzehnten der durch Mauer und Stacheldraht betonierten Spaltung des Landes infolge des verheerenden und von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkriegs.

Diese historische Dimension sollte man sich immer vor Augen halten, wenn man heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, die streng genommen ein Beitritt des ehemaligen DDR-Gebietes zum Geltungsbereich des westdeutschen Grundgesetzes war, über Probleme des Zusammenwachsens spricht oder lamentiert.

Sicher, besser geht es immer. Aber man stelle sich einmal vor, das kommunistische Regime in Ost-Berlin hätte sich länger gehalten, wie etwa im bis heute geteilten Korea. Gar nicht auszudenken. Verglichen dazu bewegen sich alle deutschen Wehklagen über einheitsbedingte Ungerechtigkeiten und Missstände auf hohem Niveau. Aber Nörgeln scheint ja ohnehin eine sehr deutsche Spezialität zu sein.

Auf dem Gebiet der einstigen DDR, den neuen Bundesländern, ist in den vergangenen drei Jahrzehnten Erstaunliches geschehen. Wer die im Zerfall begriffenen Städte zu DDR-Zeiten noch mit eigenen Augen gesehen hat, muss feststellen, dass durch umfangreiche Sanierungen schmucke Altstadtkerne neu entstanden sind. Aber es sind nicht nur die Fassaden. Die Menschen können ihre Repräsentanten frei wählen, sie können (wenn nicht gerade die Corona-Pandemie dies beeinträchtigt) reisen, wohin sie wollen. Dies klingt banal, aber bis 1989 sind im Osten Deutschlands dafür noch Menschen jahrelang eingesperrt bzw. erschossen worden.

Wer noch in Erinnerung hat, dass bis zu einer halben Millionen Sowjetsoldaten auf DDR-Territorium stationiert waren, dem muss es fast wie ein Wunder vorkommen, dass das wiedervereinigte Deutschland heute selbstverständlicher Teil des westlichen Bündnissystems ist.

Die deutsche Einheit wurde möglich, da die ostdeutschen Bürger die Zivilcourage besaßen, um gegen die totalitäre SED-Diktatur auf die Straße zu gehen. Diese friedliche Revolution ist ein einmalig schönes Ereignis der deutschen Geschichte. Sie konnte auch deswegen erfolgreich sein, da die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow klar gemacht hatte, anders als 1953 nicht mit Panzern einzugreifen, um die Herrschaft der SED zu erhalten.

Die deutsche Einheit konnte auch gelingen, da es auf westdeutscher Seite die Bereitschaft gab, den Osten mit großzügigen Transferleistungen wieder aufzubauen. Dies entsprach aber auch einem Gebot innerdeutscher Gerechtigkeit. Denn die Ostdeutschen hatten unter den Folgen des von ganz Deutschland angezettelten Zweiten Weltkriegs eindeutig mehr zu leiden als die Westdeutschen, die mit ihren Besatzungsmächten ganz einfach mehr Glück hatten.

Sicher, es ist auch manches vor allem in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung nicht glücklich gelaufen. Dem Jubel folgte im Osten rasch die Ernüchterung mit Massenarbeitslosigkeit und der Entwertung zahlreicher Biographien. Zum Teil war dies unvermeidlich, da die DDR-Wirtschaft einfach nicht wettbewerbsfähig war. Es gab aber auch Fälle, dass Industrien nur deswegen abgewickelt wurden, da sie Konkurrenz für Westbetriebe hätten sein können. Die Treuhandanstalt steht so auch für den Ausverkauf der ehemaligen DDR.

Vielen Westdeutschen fehlte zudem einfach das Einfühlungsvermögen dafür, dass die Ostdeutschen praktisch alles neu lernen mussten. Im Westen veränderte sich hingegen kaum etwas. Dass in diesem Zusammenhang der Grüne Ampelpfeil genannt wird, ist schon bezeichnend. Die größte Veränderung war dann schon, dass der Parlaments- und Regierungssitz des vereinten Landes von Bonn nach Berlin verlegt wurde - und auch dies nur nach einem äußerst knappen Abstimmungsergebnis. Noch heute haben einige Ministerien Sitz oder Nebensitz in Bonn. Dieser Luxus kostet den Steuerzahler jährlich Millionen und sollte dringend überdacht werden.

Noch heute gibt es eine unerfreuliche Schieflage der Vermögensverteilung zwischen West und Ost. Auch der Anteil der Ostdeutschen in leitenden Funktionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Medien oder Justiz ist empörend gering. Immerhin sind Ostdeutsche in der Politik stärker vertreten, wenn man nur an die in der DDR aufgewachsene Bundeskanzlerin Angela Merkel oder den einstigen Bundespräsidenten Joachim Gauck denkt.

Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, hat dazu geführt, dass es in den neuen Bundesländern von Anfang an ein Potenzial an Protestwählern gab, was in diesem Umfang im Westteil des Landes nicht vorhanden war. Zuerst profitierte die PDS (heute Die Linke) davon. Derzeit ist die rechtspopulistische AfD die Nutznießerin. Letzteres führt zu der betrüblichen Erkenntnis, dass sich ein nennenswerter Anteil der Ostdeutschen offenbar immer noch nicht zuhause fühlt in einem westlich-demokratischen Gemeinwesen, in dem verschiedene Kulturen ihren Platz haben.

Ganz angleichen lassen sich die Lebensbedingungen innerhalb Deutschlands sicher nie. Auch innerhalb des alten Westens wird es immer Gegenden geben, die ärmer als andere sind. In Bremerhaven oder Gelsenkirchen wird die Lebensqualität sicher nie so hoch werden wie in München oder Stuttgart. Ein kleiner Schritt in Richtung von mehr Gerechtigkeit zwischen Ost und West könnte indes eine Angleichung der Löhne für gleiche Arbeit, der Rentenzahlungen sowie der staatlichen Unterstützungsleistungen sein.

Unter dem Strich sollte der 30. Jahrestag der deutschen Einheit, dessen zentraler Festakt am morgigen Samstag in Potsdam stattfindet, aber ein Tag der Freude und Dankbarkeit sein - und man sollte sich vor Augen halten, was der legendäre, mittlerweile verstorbene Außenminister Hans-Dietrich Genscher einst bei einer Veranstaltung in Lübeck so treffend auf den Punkt brachte: „Es ist allemal besser, über Probleme der deutschen Einheit zu sprechen als über Probleme der deutschen Teilung.“

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