top of page
  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Ein fauler Kompromiss

Von Wim van Geenen

Kontakte mit der Polizei sind zuweilen unangenehm – insbesondere dann, wenn man sie nicht selbst gerufen hat. Noch problematischer wird es, wenn die Polizei Menschen ohne konkreten Anlass, aber aufgrund rassifizierter Merkmale wie der Hautfarbe ins Visier nimmt. Diese Praxis, auch „racial profiling“ (dt. etwa: rassistische Profilerstellung) genannt, ist laut Grundgesetz illegal. Dennoch berichten seit vielen Jahren insbesondere schwarze Menschen, aber auch Angehörige anderer Minderheiten von einem gezielten, häufig gewaltvollen Vorgehen der Polizei gegen bestimmte Gruppen.

In der Debatte um die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch US-Polizisten Ende Mai diesen Jahres erschienen die Themen „racial profiling“ und rassistisch motivierte Polizeigewalt auch in Deutschland wieder auf die Tagesordnung. Die Reaktionen darauf folgten einem Muster, dass sich häufig beobachten lässt, wenn in Deutschland über Rassismus gesprochen wird: Während das eher linke Spektrum zum noch entschiedeneren Kampf gegen Rassismus aufruft, wird insbesondere von konservativer Seite angezweifelt, ob Rassismus überhaupt als strukturelles Problem existiert. Im konkreten Fall stellten sich Innenminister von Bund und Ländern hinter die jeweiligen Polizeibehörden und beteuerten, dass jeder Einzelfall konsequent verfolgt werde. Es ist jedoch unbegreiflich, wie hier von Einzelfällen gesprochen werden kann: Rassistische „Chatgruppen“, von Polizeicomputern abgerufene Adressen für Drohschreiben des „NSU 2.0“ und weitere Verstrickungen von Uniformträgern ins rechtsextreme Milieu bestimmten neben Corona die Schlagzeilen der letzten Monate.

Wer weiter zurückblickt, erkennt Kontinuitäten: Bis heute ungeklärte Todesfälle von Geflüchteten in Gewahrsamszellen, die Verwicklungen der Polizei in die NSU-Morde und nicht zuletzt das Verhalten der Beamten bei rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen 1992 bis Chemnitz 2018 zeigen: Es geht nicht um die Verirrungen einzelner Beamter. Anzahl und Regelmäßigkeit der „Einzelfälle“ sowie die bedrückend niedrige Aufklärungsquote liefern klare Hinweise auf ein strukturelles Problem innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden. Und selbst wenn, wie Innenminister Seehofer im Interview sagte, über 99 Prozent der Beamten verfassungstreu wären, läge die Zahl der bewaffneten Rassisten auf Deutschlands Straßen immer noch im Bereich mehrerer Tausend Personen.

Eine wissenschaftliche Erhebung zum Ausmaß all dieser „Einzelfälle“ wäre der erste Schritt hin zur Behebung des Problems. Der Impuls dazu kam bereits im Juni von der EU, aus dem Justizministerium und nicht zuletzt aus Horst Seehofers Innenministerium. Der Minister entschied sich jedoch anders und stoppte die Pläne für die Studie. Seehofers Begründung: Die Studie sei unnötig, da geltendes Recht eine Ungleichbehandlung von Personen ohnehin verböte. In anderen Worten: Es kann nicht sein, was nicht sein darf - ein trauriger Fehlschluss, der eines Ministers unwürdig ist.

Dabei wäre die Studie ein wichtiger Schritt hin zum Abbau rassistischer Diskriminierung gewesen: Wie alle anderen Menschen auch sind Polizisten das Ergebnis eines lebenslangen Sozialisationsprozesses. Dass dabei auch rassistische Denkmuster verinnerlicht werden ist unangenehm, aber in einem Land mit gerne vergessener Kolonialgeschichte und tief verwurzelten rassistischen Diskursen unvermeidbar. Die Angst vor den möglichen Ergebnissen der Studie darf nicht zum Verhinderungsgrund derselben werden – Ziel muss sein, im Sinne eines guten und gerechten Zusammenlebens reinen Tisch zu machen.

Diese Woche folgte dann der neue Kompromiss der Koalitionsparteien: Statt einer expliziten Untersuchung von Rassismus in der Polizei sollen nun Gewalt gegen Polizisten und die Schwierigkeiten des Polizeialltags untersucht werden – und welchen Einfluss sie gegebenenfalls auf „Vorurteile gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen“ hätten. All das in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive und - wie es Innenminister Seehofer formulierte - im Sinne einer „vernünftigen Balance“.

Dieses neue Studiendesign entspricht einer klassischen Täter-Opfer-Umkehr: Anstatt den Rassismus der Polizei zu untersuchen, werden die von Rassismus Betroffenen zu dessen Ursache erklärt. Ausgangspunkt ist der rechtschaffene Polizist, der durch die Widrigkeiten seines Berufsalltags auf Irrwege gelenkt wird - eine Farce im Angesicht aller bisherigen Opfer von Polizeigewalt.

Eine gesamtgesellschaftliche Perspektive ist wichtig, denn Rassismus existiert nicht nur in der Polizei. Das zu glauben, wäre ebenfalls ein grober Fehlschluss. Dennoch darf der ursprüngliche Untersuchungsgegenstand nicht aufgeweicht werden. In einer Polizeikontrolle wirkt sich die ansonsten abstrakte Staatsgewalt unmittelbar aus, ohne dass sich die Betroffenen wirklich wehren können. An dieser Stelle ist daher besondere Aufmerksamkeit angebracht.

Die neu konzipierte Studie ist nicht nur ein weiterer Tiefpunkt in der Reihe der faulen Kompromisse der Großen Koalition, sondern auch ein erneutes Einknicken der SPD vor der Union. Darüber hinaus ist die Debatte ein Armutszeugnis für das Einwanderungsland Deutschland: Wären die Perspektiven der von Rassismus Betroffenen innerhalb des politischen Systems ausreichend vertreten, müsste man nicht erst Wissenschaftler bemühen, um festzustellen, dass Rassismus ein reales Problem ist. Die Betroffenen sprechen - sie müssen nur endlich ernstgenommen und im politischen System abgebildet werden. Für Teile der deutschen Gesellschaft dürfte dies ein schmerzhafter Prozess werden. Aber er ist notwendig und längst überfällig.

0 visualizaciones0 comentarios
bottom of page