Von Martina Herzog und Anne-Béatrice Clasmann
Mangelndes Selbstbewusstsein ist in diesen Tagen kein Problem der Grünen. „Wir tragen diesen Staat, wir tragen diese Gesellschaft, wir tragen diese Demokratie“, ruft Parteichef Omid Nouripour beim Parteitag in Bonn in den Saal. Seine nächsten Worte von den Grünen als „Kraft, die den Karren zieht“, gehen fast unter im tosenden Applaus der rund 800 Delegierten. Emotional wird es im Saal, als es um die Proteste im Iran geht. Einige Delegierte sehen darin eine „feministische Revolution“.
Die Grünen zelebrieren bei ihrem ersten Parteitag seit langem in voller Mannschaftsstärke die Lust an der Regierungsverantwortung. Coronabedingt sind sie fast drei Jahre lang nur im kleinen Format oder weitgehend digital zusammengekommen. „Die Grundlage grüner Politik ist Gerechtigkeit, das Prinzip heißt Verantwortung.“ So oft nimmt Co-Parteichefin Ricarda Lang das V-Wort in den Mund, dass man kaum noch mitzählen kann. Das bringe zwar Anfeindungen mit sich, doch: „Wer sich in den Sturm stellt, der kann auch mal nass werden.“
Außenministerin Annalena Baerbock erzählt, sie habe neulich im niedersächsischen Wahlkampf eine Schutzweste tragen müssen - wie sonst in Mali und der Ukraine. Die ehemalige langjährige Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Ska Keller, mahnt die Delegierten, die Grünen würden für ihre Arbeit oftmals auch angefeindet, deshalb: „Seid lieb zueinander!“
Samstagnacht - nach zwei Tagen disziplinierter Arbeit mit Maske und Stimmkarte - ist Zeit dafür. Als Nouripour den Anzug gegen Jeans und Kapuzen-Pulli tauscht und im Foyer des World Conference Center HipHop auflegt, tobt das Parteivolk. Ein Parteitag ohne Party sei einfach kein echter Parteitag, seufzt eine ältere Delegierte im blau-weißen Friedenstaube-T-Shirt - nach gut zweieinhalb Jahren Corona-Pandemie. Die bis auf wenige Ausnahmesituationen geltende Maskenpflicht - keine offizielle Regel, aber Teil des Hygiene-Konzepts der Grünen für ihren Parteitag - interessiert zu später Stunde nicht mehr allzu viele.
Am nächsten Morgen, bei der Neubesetzung parteiinterner Posten sitzen alle wieder konzentriert und mit Maske an ihren Tischen. Svenja Borgschulte aus Berlin stellt sich vor. Sie sagt, die Ampel-Regierung mit SPD und FDP seit für die Grünen „kein Wohlfühlort und kein Kuschelparadies“. In der Regierung müsse ihre Partei „echt viel Scheiße auch fressen“. In den Parteirat gewählt wird am Ende jemand anderes.
Nach den stürmischen Debatten zur Außenpolitik vom Vortag bereiten sich alle auf die nächste hitzige Diskussion vor. Es geht um den Braunkohle-Abbau und die Zukunft eines kleinen Dorfes im rheinischen Braunkohle-Revier, das weggebaggert werden soll. Die Grüne Jugend hat Einwände, genau wie Demonstranten draußen vor der Tür. Bedenken haben einige Delegierte auch gegen den geplanten Bau der Terminals für Flüssiggas.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, Umweltministerin Steffi Lemke und weitere Prominenz werden auf die Bühne geschickt, um den Konflikt zu entschärfen. In dem verlassenen Braunkohleort Lützerath leben Gegner des Abbaus in Zelten, Wohnwagen, Baumhäusern und Hütten. Der letzte ursprüngliche Bewohner hatte im Frühjahr an den Energiekonzern RWE verkauft. Am Ende wird der Antrag der Grünen Jugend abgelehnt, allerdings nur mit einer knappen Mehrheit.
Vor dem Einzug in die Ampel-Regierung mit SPD und FDP haben die Grünen ihren Machtanspruch formuliert und dabei so staatstragend geklungen, als säßen sie längst an den Schaltstellen der Bundespolitik. Doch der Anspruch reicht viel weiter: Die Partei will auch Welterklärer sein, den Menschen Halt und Orientierung bieten. Das Motto des Parteitags: „Wenn unsere Welt in Frage steht: Antworten.“ Im Kontrast zur CDU, die mit ihrem Parteitagsbeschluss für ein soziales Pflichtjahr auf Nebenschauplätzen verliere, wie mehrere Redner anmerkten.
Die Grünen hingegen drehen in Bonn das große Rad. Stärken ihrem Wirtschaftsminister Robert Habeck den Rücken im Atomstreit mit der FDP: Einen - wenn erforderlich - begrenzten Weiterbetrieb zweier deutscher Atomkraftwerke bis zum 15. April genehmigt die Partei, der Beschaffung neuer Brennstäbe erteilt sie eine Absage. Mit großer Mehrheit billigen die Delegierten einen Antrag zum sozialen Zusammenhalt in Zeiten der Inflation. Darin wird betont, dass das neue Bürgergeld und die Erhöhung der Leistungen der Grundsicherung zwar richtig, aber nicht ausreichend seien - vor allem angesichts der aktuellen „enormen Preissteigerungen.
Erstaunt reiben sich viele Beobachter des Parteitags die Augen, nachdem die Delegierten die Diskussion zu Inflation und Atomkraft schnell und ohne größeren Streit beendet haben. Was ist denn da los? Sind die Grünen in der Regierungsverantwortung und im Angesicht zahlreicher Krisen jetzt nicht mehr wild, sondern stromlinienförmig? Die Diskussionen seien konstruktiv gewesen, aber doch „mit sehr viel unterschiedlichen Perspektiven“, erklärt Bundesgeschäftsführerin Emily Büning am nächsten Morgen und klingt fast ein wenig so, als müsse sie sich für den gesitteten Ton entschuldigen.
Die Grünen hätten zugelegt bei Wahlen, auch weil sie den Menschen im Land vertrauten, sagt Parteichef Nouripour. „Diese Demokratie ist robust.“ Auch die Umfragen, die die Partei teils Kopf an Kopf, teils vor der Kanzlerpartei SPD sehen, dürften die grüne Seele streicheln. „Ist das alles einfach?“, fragt Nouripour rhetorisch. „Nein. Aber wenn‘s einfach wär, könnt‘s auch Markus Söder.“
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