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Im Blickfeld: Der "Nine-to-Five"-Präsident

Von Christiane Jacke

Joe Biden
US-Präsident Joe Biden. (Foto: dpa)

Dass sich Politiker nach 100 Tagen im Amt ihrer ersten großen Bilanz stellen müssen, haben sie dem früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu verdanken. Der trat sein Amt 1933 mitten in der Weltwirtschaftskrise an, brachte in den ersten gut drei Monaten eine ganze Batterie von Gesetzen durch den Kongress, um das Land aus der Misere zu wuchten, und prägte so die Idee des 100-Tage-Programms. Seitdem haben es Politiker in den USA und anderen Teilen der Welt mit dieser - eigentlich willkürlichen - Frist zu tun.

Für Joe Biden war es am gestrigen Donnerstag soweit: Dann ist der US-Demokrat 100 Tage im Amt. Biden startete inmitten einer Krise von Rooseveltschem Ausmaß: in der verheerenden Corona-Pandemie und der schlimmsten Rezession seit der Weltwirtschaftskrise. Außerdem hinterließ ihm Vorgänger Donald Trump innenpolitisch ein zerrissenes Land und außenpolitisch einen beispiellosen Scherbenhaufen.

Kann jemand, der auf Trump folgt, eigentlich nur punkten? Nun ja, Bidens Zustimmungswerte liegen relativ stabil bei 52 bis 54 Prozent. Das ist solide, aber nicht überschwänglich. In jedem Fall ist es besser als Trump, der es als einziger US-Präsident der jüngeren Geschichte in seiner gesamten Amtszeit nicht über 50 Prozent brachte.

Überschwang und Enthusiasmus sind aber insgesamt nicht das Leitmotiv eines Amerikas unter Biden. Der 78-Jährige zog als ältester Präsident aller Zeiten ins Weiße Haus ein. Er steht nicht unbedingt für Aufbruch und Neuerung, sondern eher für die Rückkehr zu Konventionen, Vernunft, Beständigkeit, Berechenbarkeit - und etwas Ordnung nach chaotischen Trump-Jahren. Genau das hat er bislang abgeliefert.

Angesichts der Krisenlage nahm sich Biden enorm viel vor für die ersten 100 Tage. Gleich am ersten Tag im Amt unterzeichnete er fast ein Dutzend Verfügungen, mit denen er auch diverse Entscheidungen von Trump demontierte: Er führte die USA etwa zurück in das Pariser Klimaabkommen und die Weltgesundheitsorganisation, und er drehte die Einreiseverbote aus mehreren muslimisch geprägten Ländern zurück.

In den mehr als drei Monaten seitdem arbeitete Biden relativ geräuschlos den Rest seiner 100-Tage-Vorhaben ab. Im Eiltempo setzte er, trotz einiger Gegenwehr der Republikaner, ein gewaltiges, rund 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturpaket durch, um die geplagte Wirtschaft zu stützen. Er drehte an allen möglichen Stellschrauben, um die Corona-Impfungen zu beschleunigen. Das Versprechen, in den ersten 100 Tagen 100 Millionen Impfungen zu verabreichen, löste er schon nach knapp 60 Tagen ein. Dann verdoppelte er das Ziel auf 200 Millionen Impfungen und erreichte auch das, nach gut 90 Tagen.

Inzwischen hat er Pläne für ein riesiges Investitionsprogramm vorgelegt, ebenfalls fast zwei Billionen Dollar schwer. Damit will er die Infrastruktur des Landes erneuern und Millionen Jobs schaffen. Manche vergleichen es mit Roosevelts Programm von damals. Es könnte Bidens Vermächtnis werden. Doch der Weg dahin ist noch weit.

Außenpolitisch startete Biden damit, Verbündeten zu versichern, dass sie wieder auf die USA zählen können ("Amerika ist zurück"). Mit Russland verhandelte die Biden-Regierung eilig eine Verlängerung des atomaren Abrüstungsvertrags "New Start", kurz vor dessen Auslaufen. Gleichzeitig schlug Biden gegenüber Moskau einen deutlich härteren Kurs als Trump ein. Bei Afghanistan war Biden zu schnellem Handeln gezwungen und entschied, den von Trump verkündeten Eil-Abzug bis Mai zumindest bis September hinauszuzögern. Mit Teheran gibt es inzwischen zumindest indirekte Gespräche darüber, ob die USA zum Atomabkommen mit dem Iran zurückkehren, das Trump aufgekündigt hatte.

Kurz vor Ablauf der ersten 100 Tage veranstaltete Biden noch einen internationalen Online-Klimagipfel und verkündete ein neues Klimaziel für die USA. Nach vier Jahren Stillstand im Kampf gegen die Erderwärmung meldete sich Amerika so auf der globalen Bühne zurück.

Mit Biden herrscht wieder Ordnung im Weißen Haus. Biden ist seit Jahrzehnten im politischen Geschäft - erst im Kongress, später in der Regierung. Und er hat eine Mannschaft eingesetzt, die ähnlich viel politische Erfahrung mitbringt. Diese handwerkliche Sicherheit macht sich bemerkbar. Bidens Tagespolitik folgt einem wiederkehrenden Schema: Das Weiße Haus bereitet Themen akribisch vor. Erst kommen lange Datenblätter und Erklär-Schalten für Journalisten, dann tritt Biden vor die Kameras, um von einem Pult im Weißen Haus aus ein Statement zum Thema zu verlesen. Fertig.

Biden hält sich meist ans Manuskript und beantwortet bei diesen Gelegenheiten nur selten Fragen. Alles ist streng choreografiert. Überraschungen gibt es selten. Keine Politik per Twitter, keine nächtlichen Ankündigungen, keine Rausschmisse per Tweet, kaum Aufreger. Ein krasser Kontrast zum Chaos unter Trump, der gar keine politische Erfahrung hatte und der mit seinen Volten zu jeder Tages- und Nachtzeit nicht nur die Öffentlichkeit ständig überraschte, sondern oft auch Mitglieder seiner eigenen Regierung.

Von Biden dagegen ist frühmorgens, abends und am Wochenende kaum etwas zu hören. Die "Washington Post" taufte seine Routine zu Beginn als "Nine-to-Five-Präsidentschaft". Andere nennen seine Amtsführung gar "langweilig". Doch die post-Trumpsche Berechenbarkeit ist mit einem nicht zu verwechseln: mit Behäbigkeit. (dpa)


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