Von Stefan Kuhn
Man muss die SPD-Chefin Saskia Esken nicht mögen, aber wegen ihres "Covidioten"-Kommentars über die Demonstrant*innen, die sich am vergangenen Wochenende zu Tausenden in Berlin versammelt haben, wird sie zu Unrecht kritisiert. Der Deppenteil des Wortes bezieht sich dabei nicht in erster Linie auf die größtenteils kruden Ideen und Verschwörungstheorien vieler Demo-Teilnehmer*innen, sondern auf die Art und Weise, wie die Kundgebung ablief. 20.000 Menschen dicht gedrängt, ohne Atemschutzmasken. Der Verzicht auf die Maske ist dabei zentraler Protestpunkt. Wer glaubt, dass Corona eine globale Lüge ist, würde sich ja geradezu lächerlich machen, wenn er sich und andere schützen würde.
Der Haken an der Sache ist, dass davon nicht nur die eigene Person und die Glaubensgenossen und -genossinnen betroffen sind, sondern auch der Rest des Landes. In Berlin haben Menschen aus ganz Deutschland gegen die Corona-Beschränkungen protestiert. Infizierte könnten das Virus unkontrolliert in jeden Winkel der Republik tragen. Seit die Beschränkungen gelockert worden sind, hat es immer wieder lokal begrenzte "Hotspots" gegeben. Bei Familienfeiern und Beerdigungen, in Fleischfabriken und landwirtschaftlichen Betrieben - sie konnten relativ schnell unter Kontrolle gebracht und mögliche Infektionsketten nachverfolgt werden. Wie soll dies nach solch einer Massendemonstration möglich sein?
Das Recht auf freie Meinungsäußerung hat einen hohen Stellenwert in Deutschland. Manchmal verursacht dies Brechreiz. Es ist unerträglich, dass wieder Rechtsradikale durch deutsche Straßen marschieren, oder dass Journalisten als "Lügenpresse" angepöbelt werden. Dass Neonazis sich einen Judenstern anstecken und sich als Opfer stilisieren. Dass ausgerechnet diejenigen Demokratie fordern, die sie abschaffen wollen. Man muss diesen Brechreiz unterdrücken. Jeder sollte seine Meinung frei ausdrücken können, egal wie absurd sie auch ist.
Akzeptieren muss man die Meinungen, die auf der Anti-Corona-Demo von Berlin kundgetan wurden, allerdings nicht. Im Gegenteil, man sollte sie lautstark kritisieren und keineswegs Verständnis für sie heucheln. Man kann durchaus Verständnis dafür haben, dass Neonazis, Reichsbürger, hellbraune Gesellen und pseudoreligiöse Verschwörungstheoretiker die Bühne nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen. Aber wer sonst noch da mitmarschiert, der macht sich mit denen gemein, wertet sie unnötig auf. Erstere sind unverbesserliche "Nazioten", wie sie Ernesto Alemann, der langjährige Chefredakteur und Herausgeber des Argentinischen Tageblatts, nannte. Die letzteren sind eben "Covidioten", obwohl man einige Ängste und Zweifel über die Corona-Politik der Bundesregierung durchaus ernst nehmen könnte. Die Kumpanei mit den "Nazioten" wertet ihr eigenes Anliegen allerdings ab.
Vielleicht marschieren sie auch mit, weil sie kein Anliegen haben, sondern deren viele. Da gibt es Altachtundsechziger, die ernsthaft glauben, jetzt seien die Notstandsgesetze in Kraft, gegen die sie früher gekämpft haben. Manche glauben, der Mundschutz behindere sie in ihrer freien Meinungsäußerung. Andere haben Existenzängste, und wieder andere wollen sich einfach nur wieder völlig frei bewegen können.
Es gab schon einige Proteste gegen die Corona-Beschränkungen und die Politik der Bundesregierung. Die meisten waren grob fahrlässig, aber es waren auch einige darunter, die durchaus berechtigt waren und bei denen Sicherheitsregeln eingehalten wurden. Vergangenen Monat demonstrierten Reisebusunternehmen in Berlin, und machten auf ihre kritische Situation aufmerksam. Berechtigt heißt, dass Corona trotz der Milliardenhilfen der Bundesregierung schweren wirtschaftlichen Schaden hinterlassen hat, und manche Branchen vor dem Ruin stehen. Der Rest fällt zum großen Teil unter die Kategorien politische Propaganda, persönlicher Unmut und Verfolgungswahn.
Natürlich gibt es immer Gründe, sich zu beklagen, aber Deutschland hatte im Vergleich zu anderen Staaten mehr eine Quarantäne der Lightversion. Im Unterschied zu Argentinien, wo die Maßnahmen etwa gleichzeitig eingeleitet wurden, konnten sich die Menschen noch recht frei bewegen, spazieren gehen oder joggen. Seit einigen Wochen gibt es bis auf ein Verbot von Massenveranstaltungen und Abstandsregeln in Gastronomiebetrieben und anderen Unternehmen kaum noch Beschränkungen. Wer sich darüber aufregt, soll das ruhig tun und seine Meinung äußern: aber bitte mit Abstand und Mundschutz.
Corona-Demos wie die in Berlin sind ein Grundrecht, berechtigt sind sie nicht. Eine derartige Pandemie ist völliges Neuland, ständig gibt es neue Entwicklungen. Maßnahmen müssen angepasst werden. Aber einige Erkenntnisse sind inzwischen glasklare Fakten: Das Virus ist hochansteckend und kann tödlich enden. Die Bilder aus Bergamo, New York oder Rio sollten daran eigentlich keine Zweifel aufkommen lassen. Auch bei einem leichten Verlauf der Infektion können Organe dauerhaft geschädigt werden. Abstand, Hygiene und Mundschutz können die Ausbreitung der Krankheit deutlich begrenzen. Wer das für Fake News hält und negiert, ist wirklich ein "Covidiot".
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