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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Im Blickfeld: Alles auf Neustart

Von Stefan Kuhn

Am Sonntag wählt Deutschland, und fast noch nie war das Ergebnis so offen wie bei diesen Wahlen zum 20. Bundestag. Fast heißt, dass es nur bei den ersten Wahlen 1949 eine ähnliche Konstellation gab. Auch damals waren die Spitzenkandidaten neu. In den folgenden Jahren kandidierte immer der amtierende Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin. Wechsel im Amt des Regierungschefs gab es zunächst nur während der Legislaturperiode. Konrad Adenauer (CDU) trat 1963 ab, Ludwig Erhardt (CDU) 1966. Kurt-Georg Kiesinger (CDU) wurde 1969 abgewählt, sein Nachfolger Willy Brandt (SPD) trat 1974 zurück. Helmut Schmidt (SPD) verlor 1982 ein konstruktives Misstrauensvotum, Helmut Kohl (CDU) die Bundestagswahl 1998. Sein Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) musste nach einer knappen Wahlniederlage 2005 Angela Merkel (CDU) Platz machen. Merkel stellte die Uhr auf Null. Sie vollendete ihre vierte Amtszeit und verzichtete auf eine erneute Kandidatur.

Für die Unionsparteien ist das eine schwere Bürde, denn der Kanzler*innenbonus ist keine demoskopische Erfindung. Nur bei drei von 18 Wahlen blieb der Regierungschef bzw. die Regierungschefin nicht im Amt. Dazu kommt, dass Angela Merkel die Beliebtheitsskala der deutschen Politiker und Politikerinnen mit Abstand anführt.

Auf Platz zwei liegt der SPD-Kanzlerkandidat, Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz. Bei einer Direktwahl des Regierungschefs würde er mit Abstand gewinnen. In Umfragen liegt er zwischen 30 und 48 Prozent. Sein Kontrahent Armin Laschet (CDU/CSU) kommt auf 12 bis 22 Prozent, die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock auf 12 bis 16. Scholz' Problem ist seine Partei. Die SPD lag Anfang des Jahres noch über 20 Prozentpunkte hinter der Union, die bis August noch die Nase vorn hatte. Erst im Laufe des Wahlmonats September zogen die Sozialdemokraten an CDU/CSU vorbei, wobei der Vorsprung mit drei bis fünf Prozentpunkten teilweise noch im Bereich der statistischen Fehlermarge liegt.

Scholz konnte seine Partei immerhin etwas mitziehen, im Gegensatz zur grünen Kanzlerkandidatin Baerbock. Ihr Image hat Schaden genommen. Plagiatsvorwürfe bei einem zur Wahl erschienenen Buch, ein geschönter Lebenslauf und die verspätete Nachmeldung von Nebeneinkünften, ließen die Grünen von Werten um die 25 Prozent auf nunmehr 15 bis 17 Prozent sinken. Im Mai lagen die Grünen in einigen Umfragen sogar leicht vor der Union. Man erwartete einen schwarz-grünen Zweikampf. Der Klimawandel war das große Wahlthema, und den Grünen wurde dabei die größte Kompetenz zugeschrieben. Klima ist immer noch das Hauptthema, aber Annalena Baerbock traut man das Kanzleramt nicht mehr zu. Ihrem Ko-Vorsitzenden Robert Habeck schon eher.

Fehler machte auch Armin Laschet. Noch mehr allerdings sein Kontrahent Markus Söder von der bayrischen Schwesterpartei CSU. Der bayrische Ministerpräsident stichelt seit seiner Niederlage bei der Kür des Kanzlerkandidaten gegen diesen. Das erinnert an die Sozialdemokraten bei den letzten beiden Bundestagswahlen. Die Kanzlerkandidaten Martin Schulz (2017) und Peer Steinbrück (2013) hatten nicht nur gegen Angela Merkel zu kämpfen, sondern auch gegen Querschüsse aus der eigenen Partei. Das versuchen die Sozialdemokraten dieses Mal zu vermeiden. Obwohl Scholz eher dem rechten Flügel der Partei zugerechnet wird, steht die linke Parteiführung geschlossen hinter ihm. Selbst Kevin Kühnert, der linke Jungstar der SPD, der einen Parteichef Olaf Scholz vor knapp zwei Jahren noch erfolgreich verhindert hatte, gebärdet sich als Muster an Loyalität. Die SPD hatte Scholz schon vor einem Jahr nominiert. Viele Alternativen hatte sie auch nicht.

Wenn es am Sonntag gut läuft für die Sozialdemokraten, erreichen sie einen dreifachen Erfolg. Sie werden stärkste Kraft im Bundestag, im Berliner Abgeordnetenhaus und im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. In Berlin liegt die SPD-Kandidatin Franziska Giffey knapp vor den Grünen, in MeckPomm kann die SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig mit Werten von bis zu 40 Prozent rechnen.

Sollte die SPD im Bundestag vor den Unionsparteien liegen, käme man kaum an einem Kanzler Scholz vorbei. Rechnerisch könnte es auch für Jamaika - CDU/CSU, Grüne und FDP - reichen, aber es ist recht unwahrscheinlich, dass die Grünen solch ein Bündnis eingehen, ohne die Kanzlerin zu stellen. Liegt Laschets Union vorne, sieht das etwas anders aus. Eine Teilnahme an so einem Bündnis könnte man als Respekt vor dem Wählerwillen verkaufen, und dann könnte es auch als Zugabe eine grüne Bundespräsidentin geben.

Die momentan wahrscheinlichste Option ist eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP. Gemessen an den Wahlprogrammen der Sozialdemokraten und der Grünen wäre das allerdings ein Desaster. Die FDP will keine Steuererhöhungen, lehnt den Mindestlohn ab, und der liberale Frontmann Christian Lindner will Finanzminister werden. Sozialdemokratische Politik ließe sich da besser in einer großen Koalition durchsetzen. Aber sowohl SPD als auch Grüne haben bisher eine Koalition mit der Linkspartei nicht ausgeschlossen. Sozialpolitisch gibt es da große Schnittmengen, aber die Einstellung der Linken zur Nato und zur Europäischen Union sind wenig kompatibel. Ganz vom Tisch ist solch ein Bündnis nicht, obwohl die offene Option wohl mehr als Druckmittel gegenüber der FDP gedacht ist. Denkbar ist aber auch eine Tolerierung von Rot-Grün durch die Linke.

Insgeheim hoffen SPD und Grüne aber auf eine eigene Mehrheit. Vor wenigen Monaten war das rechnerisch ein Ding der Unmöglichkeit, heute fehlen nur wenige Prozentpunkte.


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