Von Juan E. Alemann
Wenn man sich an die allgemein herrschende Stimmung und die Informationen hält, die im Fernsehen verbreitet werden, müsste das Bruttoinlandsprodukt (das die Nettoproduktion von Sachgütern und Dienstleistungen in einer Periode erfasst, also ohne Verdoppelungen, wenn ein Produkt weiterverarbeitet wird) in diesem Jahr stark gesunken sein. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Das BIP lag laut INDEC im 3. Quartal 2022 saisonbereinigt um 1,7 % über dem zweiten Quartal und 5,9 % über dem gleichen Vorjahresquartal. Die ersten 9 Monate 2022 liegen um 6,4 % über dem Vorjahr, und mit der Abkühlung, die im 4. Quartal eingetreten ist, wird für das ganze Jahr mit einer Zunahme gegenüber dem Vorjahr von 5,5 % gerechnet. Das ist sehr viel, wenn man bedenkt, dass das durchschnittliche Wachstum im vergangenen Jahrhundert leicht über 3 % lag.
Die Regierung hat sich überhaupt nicht bemüht, diese positive Entwicklung zu erklären und hervorzuheben, obwohl es im Wirtschaftsministerium viele Ökonomen gibt, die nicht viel zu tun haben und damit beauftragt werden könnten. Doch dies ist auch bei den vorangehenden Regierungen so gewesen. Das Argentinische Tageblatt wird in der Regierung ohnehin nicht gelesen, weil kaum einer Deutsch versteht und sie auch keinen Übersetzer verpflichten.
Die Zahlen über Veränderung des BIP dürften einigermaßen stimmen. Was nicht stimmt, ist die Gesamtzahl des Bruttoinlandsprodukts, die auf der Erhebung der Struktur der Wirtschaft im Jahr 1994 beruht, als Wirtschaftsminister Cavallo die Cepal (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika) verpflichtete, um das BIP neu zu berechnen. Dabei hat sich etwa eine reale Verdoppelung des BIP ergeben. Jetzt dürfte es ähnlich sein, weil die technologische Revolution sich ab 1994 beschleunigt hat. Die Computertechnologie plus Internet haben die Wirtschaft stark verändert, und hinzu kommen noch unzählige Sprünge auf anderen Gebieten. Eine Neuberechnung des BIP käme der Regierung zugute, besonders wenn das Ergebnis im Wahljahr bekannt wird. Ein höheres BIP würde auch die Bedeutung der Staatsschuld entschärfen, die dann im Verhältnis zum BIP geringer wäre. Dabei spielt auch in Inflation in den Vereinigten Staaten eine Rolle, die auch das argentinische BIP, ausgedrückt in Dollar, in die Höhe treibt. Allein, das Thema steht überhaupt nicht zur Diskussion.
Im 3. Quartal 2022 lagen die Importe um 21 % über, und die Exporte um 4,6 % unter dem Vorjahr. Zu den materiellen Gütern werden hier Dienstleistungen hinzugerechnet, die jedoch nur zum Teil statistisch erfasst werden. Alles was Computertechnologie betrifft, geht über Internet und kann von der ZB nicht erfasst werden. Wenn die Wirtschaft wächst, nehmen die Importe überproportional zu, während die Exporte diese Zunahme nicht begleiten. Die Wirtschaftspolitik muss eben exportfreundlicher sein und gleichzeitig den Ersatz von Importen durch lokale Produktion fördern. Das geschieht jetzt faktisch durch die strenge Devisenbewirtschaftung, aber ohne System. Von den kurzfristigen Maßnahmen muss auf eine langfristige Politik übergegangen werden. Grundsätzlich erfordern höhere Exporte und geringere Importe einen real hohen Wechselkurs.
Der private Konsum lag im 3. Quartal 2022 um 10,2 % über dem Vorjahr, und der öffentliche Konsum war um 0,1 % geringer, blieb also praktisch unverändert. Von einer Verkleinerung des Staates ist somit nichts zu spüren. Die Zunahme des privaten Konsums, die über der des realen Einkommens der Bevölkerung liegt, deutet darauf hin, dass auch Ersparnisse (vor allem in Dollar) ausgegeben wurden. Die hohe Differenz des freien Kurses zum offiziellen fördert den Kauf von Automobilen, weil deren Preise, zum freien Kurs ausgedruckt, niedrig erscheinen. Der Konsum wurde auch durch weiche Bankkredite angeregt. Auf alle Fälle kann dieser hohe Konsum nicht andauern.
Die Investitionen lagen gesamthaft im 3. Quartal 2022 um ganze 14 % über dem Vorjahr. Dabei nahm die Investition in Bauten um 5,6 % zu, die von Bauerweiterungen um 12 %, die von Maschinen und Anlagen um 22,1 % und die von Transportmaterial (Lastwagen, Omnibusse, Eisenbahnen) um 13,3 %. Diese Zahlen widersprechen der ständig wiederholten These, dass nicht investiert wird. Dass die argentinische Wirtschaft höhere Investitionen braucht, vor allem in Infrastruktur, ist etwas anderes.
Die Wirtschaft wird im 4. Quartal 2022 voraussichtlich nicht mehr wachsen, sondern einen Rückgang verzeichnen. Das ist einmal auf die intensive Dürre zurückzuführen, die die landwirtschaftliche Produktion stark beeinträchtigt und sich verheerend auf die Exporte auswirkt. Dann kommt noch die Wirkung der Importbeschränkung, die Fabrikationsprozesse hemmt. Hinzu kommt noch die Verhärtung der Geldpolitik. Und schließlich kommt wohl auch der Moment, in dem die Inflation den Konsum nicht mehr antreibt, sondern zu einer geringeren Nachfrage führt, weil die Einkommen hinter der Inflation zurückbleiben. Ohne Rezession lässt sich die verfahrene Lage nicht einrenken. Es geht jetzt um die Verwaltung der Rezession, um die Wirkung auf ein Minimum zu beschränken, vor allem, was die soziale Lage betrifft, und um langfristige Konsequenzen zu vermeiden. 2020, als die pandemiebedingte Krise auftrat, hat die Regierung sie recht gut verwaltet, mit finanziellen Hilfen für die Unternehmen. Etwas ähnliches sollte sich die Wirtschaftsführung jetzt schon überlegen.
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