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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Gaben des Älterwerdens

Hesse sagte: „Mit der Reife wird man immer jünger.“

Viele Menschen meinen, es ist nicht leicht alt zu werden. Sie halten an der Vergangenheit fest, sie sträuben sich gegen das Älterwerden. Wohl dem, der zufrieden über die Schwelle ins Alter gelangt ist! Der über den Dingen steht und sich wie ein Kind über Kleinigkeiten freuen kann.

Es ist gut zu wissen, dass wir nicht allein alt werden; alle müssen durch diesen Prozess des Älterwerdens hindurch. Das ist zumindest ein Trost! Hat man endlich diese Reife erlangt, so lebt man frei und sieht die Dinge aus einem anderen Winkel. Vieles wird wichtig, aber viel mehr wird unwichtig...

Wir haben viel erlebt, viel gelernt, viel getan, viel gewirkt. Das wird langsam weniger. Was bleibt ist die Hoffnung, unser Lebensantrieb bis zuletzt. Selbst im Alter kann kein Leben sein ohne eine kleine, unbestimmte Hoffnung.

Was ist Hoffnung? „Hoffnung ist ein der Zukunft zugewandtes Gefühl.“ Die Hoffnung erscheint in so verschiedenen Gestalten, dass sie als das „Eine“ schwer zu erkennen ist. Man darf hoffen, man hofft auf etwas, man hofft und erwartet, dass etwas Gutes eintrete, manchmal hofft man auch auf den Tod.

Da es aber Hoffnung gibt, muss es einen Grund für sie geben, und der gläubige Mensch nennt diesen Grund „Gott“, der Nicht-Gläubige gibt ihm einen anderen Namen, aber er meint doch nichts anderes als Gott. Hoffend erfahren wir Gott.

Hoffnung kann zu einer das ganze Leben erfüllenden und durchstrahlenden Kraft werden. Das wünsche ich jedem Menschen, aber besonders einem älter werdenden Menschen. Für diejenigen, die nicht hoffen und nicht glauben, die unglücklich oder auch nur gleichgültig sind, kommt es auf einen Versuch an. Versuchen Sie - trotz allem - zu hoffen! Es lohnt sich!

Wenn man begreift, dass der Alterungsprozess etwas ganz Natürliches ist, etwas das jedem Menschen widerfährt, etwas evolutionsbiologisches, hat man eine wichtige Erkenntnis erreicht. Die anstrengende Aufgabe, durch ständige Leistung Selbstbewusstsein aufzubauen und zu reproduzieren, wird aufs Angenehmste relativiert. Älter werden heißt, den eigentlichen Sinn von Selbstbewusstsein zu entdecken: mir meiner selbst bewusst zu werden, das Zentrum in mich hinein zu verlegen.

Was ich früher nur theoretisch wusste, dass mein Leben begrenzt ist, empfinde ich heute direkt. Dieses Gefühl zeigt mir, wie verletzlich, wie gefährdet, wie unwiederbringlich mein Leben ist. Das macht mich dankbar und bescheiden, aber auch froh. Es ist vor allem die Freude, teilzuhaben am Leben, an etwas, das größer ist als ich und das mich überdauert.

Nicht alles sein, nicht alles können zu müssen, die Selbstbegrenzung nicht als Minderung sondern als Steigerung zu empfinden, das ist eine der angenehmeren Gaben des Älterwerdens.

Monica Jung

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