Gespräch mit Buchautor Hardy Grüne über den Fußball in Buenos Aires
Buenos Aires (AT) - Hardy Grüne ist bekennender Fußball-Romantiker und Experte für die Historie des Spiels mit dem Runden Leder. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Mit-Herausgeber des Fußballmagazins „Zeitspiel“. Im Jahr 2017 war er mehrere Wochen in der argentinischen Hauptstadt unterwegs, um für sein Buch „Buenos Aires: Eine Reise in die Seele des Fußballs“ zu recherchieren. Gegenüber dem Tageblatt geht er auf die Besonderheiten der hiesigen Fanszene ein und beschreibt, was den Fußball hierzulande so einzigartig macht.
Herr Grüne, in Ihrem Buch beschreiben Sie Buenos Aires als „Seele des Fußballs“. Was macht den Fußball in der argentinischen Hauptstadt so außergewöhnlich?
Seele hat mit etwas Existenziellem und auch Fanatischem zu tun. Im Vergleich zu Montevideo, das ich das „Herz des Fußballs“ genannt habe, habe ich die Fankultur in Buenos Aires deutlich härter erlebt. Deutlich abgegrenzter auch. Wo das Gegeneinander der Vereine und der Fangruppen sehr ausgeprägt ist - und wo auch die Identifikation noch einmal deutlicher ist. Das hat Buenos Aires für mich zu dieser Seele gemacht - und dann gibt es da einfach diese Unersetzlichkeit des jeweiligen Vereins im Leben der Fans.
Ich selbst bin, seitdem ich denken kann, Fußballfan. Mein eigener Verein ist Göttingen 05. Zudem habe ich noch Vereine in Frankreich und England, wo ich gelebt habe. Ich kenne auch die Identifikation mit einem Verein, das Mitleiden wie die Freude. Aber es hat immer nur einen Randbereich in meinem Leben eingenommen.
In Buenos Aires habe ich bei vielen Menschen, die ich getroffen habe, einfach gesehen: Das ist kein Randbereich, das ist das Zentrum. Arbeit, Familie und alles Weitere sind der Randbereich - und werden auch beim Fußball eingespannt. Ich erinnere mich zum Beispiel an Racing: Da habe ich viele Familien mit Kindern gesehen, wo schon die Säuglinge in Vereinsfarben gekleidet waren. Es wird sofort einfach alles aufgenommen.
Welcher Club und welches Stadion haben es Ihnen besonders angetan?
Als ich nach Buenos Aires gekommen bin, da habe ich mir gedacht, Huracán ist der Verein, den ich am spannendsten finde. Allein schon die Geschichte des Wappens mit dem Ballon von Flugpionier Jorge Newbery. Ich bin ja auch ein Wappen-Fetischist. Das ist eine Verbindung, die ich gleich gesehen habe. Dann bin ich auch ein Fußball-Romantiker. Ich schaue mir gerne Vereine an, die heute nicht mehr so ganz oben mit dabei sind. Huracán war in den 20er Jahren stark. Dann später die Meisterschaft 1973 mit Trainer César Luis Menotti und Starspieler Carlos Babington. Das war für mich Huracán.
Boca hat mich natürlich auch interessiert - mit Diego Maradona und allem, was eben einfach Boca ist. Auch ein Verein, von dem mir schon aus der Ferne klar war: Der lebt etwas anderes. Der prägt auch seinen Stadtteil. La Boca ist ja auch so vieles. Zum einen ist das Viertel für die Touristen da; zum anderen ist es aber auch ein großes Problemgebiet. Das habe ich dann auch beides vorgefunden. Das Problemgebiet liegt direkt am Stadion Bombonera. Man braucht ja nur in eine Seitenstraße reinzugehen. Da gab es ein Schild direkt gegenüber dem Haupteingang an einem Laternenpfahl, auf dem stand: „Hast Du Probleme mit Drogen? Dann rufe diese Telefonnummer an.“ Ich versuche auch immer, die Fußballkultur festzustellen, indem ich hingehe und schaue, wo findet das eigentlich statt - und das war bei Boca sehr offensichtlich.
Bei Huracán ist das Stadion wunderschön. Es ist wirklich wie ein Theater. Es fühlt sich an wie diese großen Kinosäle, die wir früher in Deutschland auch hatten. Da ist wirklich eine stolze Geschichte zu sehen. Aber der Funke ist nicht übergesprungen. Das Stadion war nicht voll, und die Stimmung ging so. Zu dem Zeitpunkt war ich aber auch schon drei Wochen in Buenos Aires und hatte relativ viele Spiele gesehen - und ich hatte mich eigentlich ganz früh in den unterklassigen Fußball verliebt, also Vierte oder Fünfte Liga.
Mein erstes Spiel war bei CD Leandro N. Alem, einem Fünftligisten. Ich bin vollkommen ohne Erwartung dorthin gefahren, über eine Stunde mit der Bahn. Schon im Zug machten Fans Stimmung. Da habe ich gesehen: Das ist hier kein normaler Fünftligist. Es gab wunderbare Begegnungen. Der große Fußball ist natürlich wieder was anderes. Aber das ist ja auch in Deutschland ähnlich: Der große Fußballspiel ist für ein anderes Publikum da als der kleine Fußball, wo es um Beteiligung geht. Letzteres hat etwas Aktives, ein aktives Einbringen in den Verein, statt das passive Goutieren eines Spiels
Eine Begegnung mit dem modernen Stadionbesuch hatten Sie ja in La Plata, wo es das „Estadio Único“ gibt. Da hat man im Buch gelesen, dass der Funke gar nicht übersprang.
Ja, das war wie im Münchner Olympiastadion. Es sieht ja auch ein wenig so aus. Für mich ist da nicht viel rüber gekommen. Ich habe aber auch gesehen, dass Estudiantes de La Plata eigentlich eine spannende Fanszene hat. Da sind einige ganz schöne Hauer dabei gewesen - Stichwort Oberkörper-frei-Fraktion - aber auch schon deutlich in den Vierzigern. Die werden sicherlich schon manchen Fight hinter sich haben. Aber ich empfand sie ein wenig wie Fremdkörper in dem Stadion. Es sind auch sehr viele Frauen und sehr viele Familien da gewesen. Was ich an sich gut finde. Ich finde es sehr positiv, dass Fußball sich weg entwickelt vom reinen Macho-Männer-Ding hin zu einer Familien-Angelegenheit. Das unterstütze ich absolut. Mittlerweile sind Estudiantes in ihr angestammtes Stadion zurückgezogen.
Das Estadio Único hat mich auch deswegen völlig verwirrt, weil ich bis dahin nur gewohnt war, in Bruchbuden zu kommen. Beispielsweise bei Defensa y Justicia oder El Porvenir. Letzterer Club hat ein riesiges Stadion. Da passen bestimmt 20.000 Leute rein. Ich habe mich da mal auf die Gegengerade gewagt, aber ich habe bei jedem Schritt geguckt: Kann ich da drauf gehen oder bricht mir das gleich weg. Es war ein Ausflug in eine Zeit, wo noch eine andere Fußballkultur da war, auch eine andere regionale Kultur, in der sich das Freizeitverhalten ausschließlich in der Region abgespielt hat, und es keine Möglichkeit gab, mal rauszugehen. Das ist verfallen, da gibt es auch keine Zukunft mehr. Ein Verein wie El Porvenir hat - trotz seines Namens - keine Zukunft mehr. Wenn ich in 30 Jahren diese Reise noch mal mache, werde ich vor einigen Baustellen stehen, und manche Vereine werden nicht mehr existieren. Wir reden hier teilweise auch über eine sterbende Kultur
Wäre es denn gut für den Fußball hierzulande, wenn Argentinien gemeinsam mit Uruguay den Zuschlag für die WM 2030 erhielte?
Ich halte es für unrealistisch, dass das durchkommt. Es wäre eine schöne Sache, aber das in die Praxis umzusetzen, wird schwierig sein. Die Lobby ist nicht da. Das Stadion in Montevideo ist überhaupt nicht mehr tauglich. Ein liebevoller Klotz. Aber mit modernem Fußball hat das nichts mehr zu tun. Diese in Beton gegossenen Stühle, die auf der Tribüne stehen...
Fußball verändert sich. Er ist eine Massenbewegung, die in die Breite gegangen ist. In Buenos Aires funktioniert das noch ganz gut. Aber wenn ich das in Deutschland sehe, ist die Entwicklung in die Spitze gegangen. Wir haben so viele Bayern-München-Fans - aber dafür gibt es keine lokalen oder regionalen Fans mehr. Da muss eine andere Ebene entstehen. Die großen Zeiten sind vorbei, die kommen nicht wieder.
Fußball ist 125 Jahre alt. Als Zuschauer-Sport das ist ja nicht lange, wenn man das in der Weltgeschichte sieht. Es kann auch gut sein, dass die Zeiten einfach vorbei sind. Die Jugend in Deutschland geht nicht mehr zu Göttingen 05, wenn ich das jetzt mal lokal runter breche - und das ist überall ähnlich. Dafür haben sie auch andere Angebote. Wir haben andere Zeiten. Dinge verändern sich. Buenos Aires ist diesbezüglich etwas später dran. Hier sind die Bindungen an das Stadtviertel und an die Familie noch stärker.
Eine der eindrucksvollsten Begegnungen meiner Zeit in Buenos Aires war in meiner WG mit einer Frau. Die hatte mich immer geneckt, wenn ich zum Fußball gegangen bin: „Du Verrückter, wie kann man sich so einen Blödsinn angucken? Warum gibt man da so viel Geld aus?“ Aber dann gab sie mir am letzten Tag einen Kaffeebecher von Boca. Ich sagte zu ihr: „Ich dachte, Du interessierst Dich gar nicht für Fußball.“ Ihre Antwort war: „Natürlich nicht, aber meine Familie ist Boca - und ich bin auch Boca.“ Das fand ich schon bezeichnend: Eine Frau, die eigentlich gar nichts mit Fußball zu tun hat. Aber die Tasse hatte sie mitgenommen. „Meine Familie ist Boca.“
Wodurch unterscheidet sich der Fußball in Argentinien von dem Deutschland?
Zum Fußballgucken fährt niemand nach Argentinien. Das ist es nicht wert. Selbst bei Boca oder bei River nicht. Das ist ja auch nachvollziehbar. Denn jeder, der ein bisschen kicken kann, wird sofort weggekauft. Erst von den kleinen zu den großen Vereinen und dann von dort aus weiter ins Ausland. Unterm Strich bleibt dann nur noch übrig, wer nicht so gut kicken und nicht verkauft werden kann - oder wer aus Paraguay, Bolivien oder sonst woher kommt. Die Qualität des Fußballs ist manchmal erschreckend gewesen. Ganz ehrlich. Auch die Erste Liga war nicht toll. In den unterklassigen Ligen hat man einen kämpferischen Fußball. Den mag ich, denn ich bin britisch sozialisiert in meiner Fußball Leidenschaft.
Die Erste Liga in Argentinien ist also eine Liga derjenigen, die es nicht nach Europa geschafft haben?
Ja, das ist in ganz Südamerika der Fall. Argentinien hat die meisten Exporte, dicht gefolgt von Brasilien. Der südamerikanische Fußball ist auf der Vereinsebene komplett ausgeblutet. Spätestens mit dem Bosman-Urteil (1995) ging das los. Da sind wir bei den ganz großen Veränderungen im Fußball, die zu diesen Verschiebungen geführt haben. Die Bedeutung der argentinischen Liga ist in Europa nicht existent. Sie ist nur für die Leute in Buenos Aires oder Argentinien interessant. Aber in Deutschland interessiert sich niemand dafür.
Es ist aber bemerkenswert, was für einen Output an guten Fußballern die südamerikanischen Länder haben; welche Masse an Talenten da nachkommt. Was bedeutet Fußball eigentlich für einen Fünfjährigen, der merkt, dass er besser spielen kann als andere? Das ist ja auch eine riesige Chance, aus allem raus zu kommen. Was hatte Maradona gemacht? Er ist sofort mit seinen Eltern aus Villa Fiorito rüber gezogen zu den Argentinos Juniors. Die Familienbindung ist ein Phänomen, das in Südamerika noch sehr ausgeprägt ist. Das haben wir in Deutschland in dem Maße überhaupt nicht mehr. Wenn Du als Fußballer ein Talent bist und kannst damit Geld verdienen, musst Du die ganze Familie mitziehen. Ich finde, es ist schon sehr bemerkenswert, was Südamerika wirklich jährlich einen neuen Spielern hervorbringt - und man sieht unter dem Strich: Ich bin ein großer Fan von all dem, was ich hier erzähle.
Welche Besonderheiten haben Sie in der argentinischen Fankultur ausgemacht?
Die Fankultur war ja der Grund, warum ich nach Buenos Aires gefahren bin. Die Verankerung der Fans mit ihrem Verein ist sehr stark ausgeprägt. Allerdings auch in einer gleichförmigen Art. Man findet eine ähnliche Fankultur bei vielen Vereinen. Das nimmt sich alles nicht viel. Sie singen ähnliche Lieder. Es hat relativ schnell etwas Monotones. Die Ausprägungen sind gelegentlich unterschiedlich. Bei Nueva Chicago, dem alten Schlachthofgebiet, geht es raubeiniger zu als etwa in Lanús, das ich als eine relativ wohlhabende Mittelstadt empfunden habe.
Was mich aber immer geflasht hat, ist diese immer vorhandene und überhaupt nicht hinterfragte Bereitschaft, zu jeder Tageszeit ungefähr zwei Stunden vor dem Anpfiff im Stadion zu sein, seine Trommeln und Fahnen rauszuholen und einfach da zu sein für seinen Verein und dieses Bekenntnis zu zeigen. Dies hat man nirgends in einer solchen Vielfältigkeit wie in Buenos Aires. Hier gibt es ungefähr 80 Profivereine. Es hätte ja auch sein können, dass sich bestimmte Vereine irgendwann auflösen. Aber sie haben sich erhalten. Das hat mich sehr berührt.
Aber man muss auch sagen, dass die Fankultur in Argentinien an vielen Orten auch unangenehme Seiten hat. Die Gewalt hat dazu geführt, dass die Gästefans nicht mehr mit ins Stadion dürfen. Das ist ein ganz großer Verlust, den ich wahrgenommen habe. Eine Fankultur braucht eine Gegen-Fankultur, damit es sich gegenseitig etwas spiegelt und damit Dynamik reinkommt. Dies fehlte. Andererseits habe ich angesichts der Gewalt auch großes Verständnis dafür, dass man sagt: Es geht so nicht mehr. Da sind jegliche Hemmschwellen gefallen. Da gab es Fehlentwicklungen, die schon in den 30er Jahren einsetzten.
Geht es den Fanclubs, den Barras Bravas, mehr um ihr Geschäft oder um die Unterstützung ihres Vereins?
Eine schwierige Frage für mich, die ich nicht wirklich beantworten kann, weil ich den Zugang dafür nicht bekommen habe - und den kann auch keiner bekommen.
Meine Interpretation ist, dass es ihnen grundsätzlich um den Verein geht, weil das etwas ist, was ihnen quasi mit der Geburt ins Herz gelegt wurde. Wenn die Familie, in die man hineingeboren wird, Boca ist, ist man selbst auch Boca. Vom ersten Tag an ist das eine sehr enge Verbindung. Die ist noch nicht einmal mit Liebe richtig beschrieben. Es ist noch mehr als das. Ich weiß gar nicht, ob es dafür ein Wort gibt. Das ist, glaube ich, die Grundvoraussetzung, damit es zum Lebensinhalt wird.
Dann gibt es aber auch die Lebensumstände. Wir reden ja hier viel von jungen Männern, von denen viele finanziell nicht so gut aufgestellt sind. Dann ist die große Frage, wie man sein Geld verdient - und von da aus ist man ruckzuck im kriminellen Milieu - und das in einer ausgeprägten Macho-Kultur mit einer absolut ausgeprägten Hierarchie. Der Stärkere gewinnt. Das begünstigt das alles. Diese Strukturen müssen nicht kriminell sein, aber sie sind kriminellen Strukturen schon mal sehr ähnlich. Dann werden die Barras auch gerne von der Politik beansprucht - sei es nur zum Schutz von irgendwelchen Veranstaltungen. Perón hat das ganz konkret gemacht bei Racing. Wir können das alles überhaupt nicht mit der Fankultur in Deutschland vergleichen.
Haben denn die Barras Bravas bestimmte politische Tendenzen?
So ein bisschen gibt es das schon, dass eine bestimmte politische Richtung da ist. Wenn wir mal River und Boca nehmen: In Núñez, wo River beheimatet ist, gibt es eine völlig andere Lebenskultur als in La Boca. Auch wenn viele Boca-Fans nicht aus La Boca kommen und viele River-Fans nicht aus Núñez, finde ich, dass die Vereine schon Unterschiedliches ausstrahlen. Spannend finde ich, dass ich nicht so viel Rassismus erlebt habe, wie ich es erwartet hatte. In Buenos Aires gibt es ja vor allem spanische, italienische und jüdische Wurzeln. Man sieht hingegen nur wenige Schwarze. Der einzige Rassismus, der mir etwas aufgefallen ist, ist der gegen Paraguayer. Das scheint die Unterschicht zu sein, was sicherlich mit indigenen Hintergründen zu tun hat.
Argentinos Juniors haben Sie in Ihrem Buch mit dem FC St. Pauli verglichen, der in Deutschland das Image eines linksalternativen Vereins pflegt.
Ja, das stimmt. Die sind tatsächlich aktiver gewesen, da gibt es auch ein kleines Museum. Die Leute dort waren unglaublich freundlich und aufgeschlossen. Dann ist da dieser Maradona-Bezug. Der hat ja auch den Ruf gehabt, ein Linker gewesen zu sein. Das habe ich jetzt absichtlich so formuliert. Da gab es seine Freundschaft zu Fidel Castro. Doch Maradona war politisch gewiss auch sehr wechselhaft. Jetzt muss ich aber aufpassen. Ich darf nichts Negatives über Diego sagen, sonst komme ich nie wieder in Argentinien rein. Ich habe ihn immer gemocht. Ich fand und finde ihn eine super spannende Figur.
In Ihrem Buch haben Sie ihn ja auch als „den einzig wahren Fußballgott“ bezeichnet.
Ja, das würde ich auch so sehen. Da kommt sonst nur Tobias Dietrich ran, der große Mittelfeldspieler von Göttingen 05 in den 90er Jahren. Aber gut, Scherz beiseite. Das war für Argentinos natürlich ein Glücksfall, dass Maradona bei ihnen angefangen hat. Wobei Argentinos ja auch schon historisch dem linken Spektrum entstammt. Die sind in einem anarchistischen Buchladen gegründet worden. La Paternal ist auch ein spannender Stadtteil. Dort habe ich verstanden, dass Luxus in Buenos Aires bedeutet, wenn man im Hochhaus lebt.
Der argentinische Liga-Fußball ist - nun ja - sehr gewöhnungsbedürftig organisiert. Kürzlich gab es 30 Erstligisten. Der Abstieg errechnete sich durch eine dreijährige Durchschnittstabelle. Es gab zwei Meister pro Jahr. Das führte 2012 dazu, dass Tigre am letzten Spieltag sowohl Meister werden als auch absteigen konnte. Derzeit steigt niemand ab. In den vergangenen Jahren wurde der Spielmodus permanent verändert. Das ist schon alles merkwürdig, oder?
Ja, das ist ein ganz großes Problem, dem ich bei meinem Aufenthalt aus dem Weg gegangen bin. Ich teile die in der Frage vorgetragene Einschätzung. Ich könnte vielleicht dazu sagen: Wenn wir so ein System in Deutschland hätten, wäre der HSV nie abgestiegen. Ich glaube, das ist eine Motivation, die dahinter steht: Dass die großen Vereine nicht absteigen.
Ich habe es bei dem Fußballer-Streik während meines Aufenthalts mitbekommen, wie kompliziert das alles ist. Es tut sich auch ein massives Korruptionsproblem auf, was wir aber auch im gesamten südamerikanischen Fußball haben. Ich verweise nur auf den verstorbenen Verbandsboss Julio Grondona und seine Interessenvertretung.
Dann hat man River und Boca. Die müssen ja einfach irgendwie mitspielen. Da ist es eigentlich egal, ob sie Meister werden oder nicht. Dann gibt es Racing, Independiente und San Lorenzo als weitere ganz wichtige Vereine. Da sind die Interessen. Das alles ist etwas, was wir überhaupt nicht vergleichen können mit der Situation in Deutschland.
Auch historisch hat es sich in Argentinien anders entwickelt. Es gab eigentlich lange Jahre gar keine richtige argentinische Liga. Ich war zum Beispiel mal in Mendoza. Die spielen da quasi ihr eigenes Ding. Die sportliche Bedeutung der nationalen Liga ist nicht mit dem vergleichbar, was wir in Deutschland mit der Bundesliga haben. Wir haben den Fokus vor allem darauf, wie es sportlich läuft. In Argentinien hingegen ist der Sieg im Derby gegen den Erzrivalen am Ende wichtiger als die Meisterschaft.
Das große Problem in Argentinien ist struktureller Natur auf der Funktionärsebene. Ich möchte mal behaupten, dass wir es da fast überwiegend mit Korruption zu tun haben. Das gibt es allerdings auch in Afrika oder auf dem Balkan.
Man findet in Argentinien - außer bei der Nationalmannschaft - auch keine vereinsübergreifenden Fan-Zusammenschlüsse. Also, wo sich Fangruppen zusammentun und sagen: Wir überwinden jetzt mal die Vereinsgrenzen und versuchen, an die Strukturen ranzugehen. Beispielsweise beim Thema Gewalt. Die Frage, kriegen wir die Gästefans wieder ins Stadion, wäre ja ein Ansatz, wo die Fangruppen sagen könnten: Wir kümmern uns gemeinsam darum, dass wir die Gewalt aus den Stadien rausbekommen, damit wieder Gästefans zugelassen werden. Aber das findet nicht statt. Die Rivalität zwischen den Verein ist so groß, dass sie quasi unüberwindbar ist.
Bei der Nationalmannschaft funktioniert es leidlich, auch wenn die Barras von Boca und River oft dominieren. Ich war 2018 in Moskau und fand das sehr beeindruckend, wie argentinische Fans unterwegs sind. Oder denken wir an 2014: Da gibt es ja dieses Video, wo argentinische Fans im Einkaufszentrum das „Brasil, decime que se siente“ singen. Das ist Gänsehaut pur.
Wie erklären Sie sich die angesprochene Gewalt?
Ich glaube, dass das einfach eine Frage der Entwicklung ist. In Buenos Aires haben wir die Sondersituation, dass oftmals erst die Vereine gegründet wurden und anschließend darum herum die Stadtteile entstanden. Die Clubs sind auch ganz früh an die Politik gekommen. Als die demokratische Entwicklung in den 20er Jahren begann, wurden sofort die Fans eingespannt als Ordnerpersonal. Das hatte auch viel mit Gewalt zu tun. Wir haben eine männliche Kultur. Das ist etwas, was sich historisch zurückverfolgen lässt. Ein Stück weit gehört Gewalt zu einer männlichen Kultur dazu - und Fußball ist eine männliche Kultur. Heute haben wir andere Zeiten, aber ein Stück weit ist in Buenos Aires die alte Kultur noch da. Man kann sehr gespannt sein, wie der Fußball in Buenos Aires in 30 Jahren aussieht.
Können Sie sich vorstellen, eine neue Fußball-Reise in unsere Gegend zu unternehmen?
Ich würde gerne sehr bald wieder an den Río de la Plata kommen. Eigentlich hatte ich geplant, zur WM nach Uruguay zu kommen, um zu schauen, wie das Land mit einer Sommer-WM umgeht. Durch die Pandemie sind meine Pläne aber leider durcheinander geraten, so dass ich nun erst mal schauen muss, ob und wie das klappt. Klar ist aber: Ich komme zurück ins Herz und die Seele des Fußballs.
Herr Grüne, vielen Dank für dieses Gespräch.
Das Interview führte Marcus Christoph.
INFO:
Das Buch „Buenos Aires Eine Reise in die Seele des Fußballs“ ist im Online-Shop des Zeitspiel-Magazins erhältlich: www.zeitspiel-magazin.de (Die Bücher). Dort findet man neben weiteren Werken auch ein Buch Grünes über Fußball in Montevideo. Eine Lieferung nach Argentinien ist gegen eine zusätzliche Portogebühr in Höhe von 16 Euro möglich. Bei Fragen bezüglich des Bezugs können sich Interessenten an die folgende E-Mailadresse wenden: abo@zeitspiel-magazin.de.
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