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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Flughafenblues

Von Catharina Luisa Deege

Catha
Kurztrips trotz Pandemie: kein Ding der Unmöglichkeit und äußerst heilsam. (Foto: cld)

Buenos Aires/San Juan (AT) - Wir sind Zeugen und Zeuginnen einer Katastrophe. Noch immer. Selbst, wenn man sich das am liebsten gar nicht eingestehen will. Die Corona-Pandemie beherrscht weiterhin unseren Alltag, oder anders: Sie ist fester Bestandteil unseres Alltags. Im deutschen Duden wurden 2021 Begriffe wie „boostern“ und „Long-Covid“ aufgenommen, die man 2019 noch - wenn überhaupt - dem breiten Feld des Rausch- und Drogenvokabulars zugeordnet hätte. Geht man auf die Straße, baumelt neben den Hausschlüsseln stets die medizinische Gesichtsmaske in der Hand mit. Sie liegt griffbereit in einem Fach der Flurkommode. Und will man eine größere Reise unternehmen, gehört zur Planung ganz selbstverständlich die Suche nach dem nähesten PCR-Testzentrum dazu.

2021 ist nicht das Jahr der großen Umstellungen und Ausnahmezustände; es ist das Jahr der Anpassung. Irgendwie arrangiert sich die Menschheit mit diesem miesen, flinken Virus. Die Leute wirken abgeklärter, souveräner, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bis auf den Blick auf neuartige Mutationen entspannter. Schließlich kennt man diesen Eindringling heute gut - und ein Gegengift gibt es mittlerweile auch.

Die Zulassung der Corona-Impfungen bedeutete das erste große Aufatmen seit Anfang letzten Jahres. Während ich selbst noch 2020 meine Eltern in Deutschland durch ein zwei Metern von ihnen entferntes Winken begrüßte, konnte ich ihnen dieses Jahr wieder am Flughafen in die Arme fallen - und das ohne schlechtes Gewissen, der Impfung sei Dank.

Ja, das ist die neue Normalität. Menschen werden in geimpft, getestet und genesen eingeteilt, und man empfindet es nicht als schräg. Ab und zu muss ich mich kneifen. Zu schnell gewöhnt man sich an diese neuartigen Umstände, zu schnell fällt man andererseits wieder in alte Gewohnheiten zurück; wie etwa auf meiner Estland-Reise dieses Jahr, wo man in Fernbussen und Supermärkten keine Masken tragen musste, und ich dies mit Erleichterung und Leichtheit begrüßte.

Manchmal passiert es, dass einen die Realität kneift. Dank der historischen Grenzöffnungen Argentiniens am 1. November diesen Jahres, konnten mich meine Brüder in Buenos Aires besuchen. Lange hatten sie vor, die Heimat ihrer Schwester kennenzulernen. Also fuhr ich zum Flughafen in Ezeiza, mit der Erwartung, sie im Außenbereich empfangen zu müssen. Dem war nicht so: Wie in „alten Zeiten“ stand drinnen, im Ankunftsbereich wieder eine bunte Traube wartender Menschen. Ich konnte es kaum fassen, hatte ich wenige Monate zuvor den Flughafen noch als Geisterstadt mit seinen zwei Flügen pro Tag empfunden.

Gemurmel, Schilder, ganze Familien mit Omas, Opas, Cousins und Cousinen, die sehnsüchtig warteten - bis auf die vermummten Gesichter wirkte alles wie früher. Ich war viel zu früh dran und somit gerade dabei aus Langeweile mein Handy zu zücken, bis die ersten Passagiere aus der Tür, über der ein Schild „Arribos internacionales“ titelte, austraten und ich Zeugin einer herzzerreißenden Szene wurde. Aus der aufgeregt zappelnden Familie neben mir fing auf einmal jeder einzelne an los zu sprinten. Ein junger Mann mit einem großen Berg an Koffern begrüßte einen nach dem anderen, die Tränen liefen und liefen. Diesen Umarmungen und festen Wangenküssen nach zu urteilen, musste das letzte Wiedersehen lange zurück liegen.

Die Szene berührte mich dermaßen, dass auch ich meine Tränen nicht zurück halten konnte. Und das ist nicht nur dem zuschulden, dass die Lockdowns aus mir einen sensibleren Menschen gemacht haben, sondern auch dem Bewusstwerden darüber, dass wir trotz aller Anpassung an pandemische Umstände in verdammt schwierigen und seltsamen Zeiten leben. Die auf der ganzen Welt eingeschränkte Reisefreiheit macht es vielen Menschen noch immer unmöglich, ihre Liebsten einmal fest zu drücken.

Sich 24 Stunden lang tagtäglich selbst zu bemitleiden ist keine elegante Lösung; das bereits war meine Lieblingsbeschäftigung vergangenen Jahres. Sich jedoch das ein oder andere nicht erreichte Karriere-, Abnehm-, oder Sprachlernziel zu verzeihen, ist heilsam. Wenn man schon nicht physisch an dieser Pandemie zerbricht, sollte die mentale Gesundheit ebenso gewahrt werden. So hilft es manchmal, sich selbst zu sagen: Wir sind Zeugen und Zeuginnen einer Katastrophe.

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