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„Ende eines Irrwegs“

Der 8. Mai 1945 im historischen Rückblick

Von Marcus Christoph

Kapitulation
Bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Berlin-Karlshorst. (Foto: Bundesarchiv)

Buenos Aires - Der 8. Mai 1945 war eine Zäsur weltgeschichtlichen Ausmaßes: Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht endete damals der Zweite Weltkrieg in Europa. Knapp drei Monate später gab sich auch das japanische Kaiserreich geschlagen. Weltweit kamen rund 65 Millionen bei dem Gemetzel ums Leben. Darunter mehr als die Hälfte Zivilisten.

Deutschland war am Ende. Militärisch wie moralisch. Die Städte des Reichs, das den Krieg ausgelöst hatte, waren Trümmerlandschaften. Nicht anders sah es mit den Seelenlandschaften derjenigen aus, die überlebt hatten. Das Grauen, das der Holocaust mit seinem millionenfachen Massenmord bedeutete, erschloss sich vielen Zeitgenossen in seiner ganzen Tragweite erst allmählich.

Das Deutsche Reich kapitulierte damals gleich zweimal. Zunächst am 7. Mai in Reims, dem einstigen Krönungsort der französischen Könige, wo Generaloberst Alfred Jodl gegenüber dem US-amerikanischen Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower die bedingungslose Kapitulation unterzeichnete. Diese trat dann am 8. Mai in Kraft. Seitdem gilt dieses Datum bei den Westalliierten als Victory in Europe Day.

Sowjetführer Josef Stalin bestand zudem auf einer Kapitulation in dem von ihm eroberten Gebiet. Im Offizierskasino der Pionierschule in Berlin-Karlshorst, wo der Oberkommandierende der Roten Armee in Deutschland, Marschall Georgi Schukow, seinen Sitz hatte, leistete Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht die entsprechende Unterschrift. Die Prozedur fand am späten Abend des 8. Mai statt. Da es nach sowjetischer Zeit bereits nach Mitternacht war, wird in Russland bis heute der 9. Mai als „Tag des Sieges“ gefeiert.

Zerstörte Hamburg
Am Ende des Krieges war Deutschland eine Trümmerwüste - materiell wie moralisch. Die Aufnahme zeigt das zerstörte Hamburg. (Foto: dpa)

Anders als nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Siegermächte diesmal darauf bestanden, dass die deutschen Militärs die Kapitulation besiegelten. 1918 hatten sich die Generäle dieser Verantwortung entzogen. Stattdessen mussten Politiker, sprich Zivilisten, diesen unangenehmen Gang antreten. Später behaupteten dann die Militärs wahrheitswidrig, die Zivilisten in der Heimat seien dem „im Felde“ unbesiegten Heer in den Rücken gefalle. Die sogenannte Dolchstoßlegende war geboren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es für solche Deutungen keinen Raum mehr. Zu eindeutig war die Niederlage. Zum Problem wurde jetzt, dass die Siegermächte untereinander ihre weltanschaulichen und machtpolitischen Differenzen nicht lösen konnten. Diese mündeten in den Kalten Krieg und die Spaltung der Welt in zwei rivalisierende Blöcke. Der Konflikt, der zur Gründung zweier deutscher Staaten führte, dauerte insgesamt vier Jahrzehnte. Die Sowjetarmee befreite die Völker Ost- und Mitteleuropas zwar vom Nationalsozialismus. Stülpte ihnen jedoch auch ein neues totalitäres System über, das nationale Freiheitsbestrebungen rigoros unterdrückte.

In den Staaten, die aus der Konkursmasse des Nazi-Reichs hervorgingen, war der Umgang mit dem historischen Datum unterschiedlich. In der DDR machten es sich die Machthaber einfach und stellten sich und ihren Staat einfach auf die Seite der (sowjetischen) Sieger. Im „ersten Friedensstaat auf deutschem Boden“ war der 8. Mai als „Tag der Befreiung“ von 1950 bis 1966, 1975 und 1985 ein gesetzlicher Feiertag. Österreich, das 1938 durch den stürmisch umjubelten „Anschluss“ Teil des NS-Reichs geworden war, definierte sich nach dem verlorenen Krieg als erstes Opfer von Hitlers Expansionspolitik. Einzig die Bundesrepublik stellte sich als Staat schon früh der Verantwortung. So unterzeichnete etwa Kanzler Konrad Adenauer 1952 ein milliardenschweres Entschädigungsabkommen mit Israel.

Doch das bundesdeutsche Gedenken an das Kriegsende war lange ambivalent. In den ersten Jahren nach 1945 hatte noch das Gefühl überwogen, besiegt worden zu sein. Hinzu kam der Wunsch, die schmerzhafte Geschichte schnell hinter sich zu lassen. Theodor Heuss gehörte zu den Ersten, die einer selbstkritischeren Sicht das Wort redeten. Der erste Bundespräsident betonte den janusköpfigen Charakter des 8. Mai: Dieser sei „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“

Theodor Heuss
Theodor Heuss, der erste Präsident der Bundesrepublik, thematisierte den 8. Mai. (Foto: dpa)

Die Gedanken zum 20. Jahrestag, die der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard formulierte, waren ganz vom Kalten Krieg geprägt: Nur „wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, dann allerdings hätte die ganze Menschheit Grund genug, den 8. Mai als einen Gedenktag der Befreiung zu feiern“. Der „Vater des Wirtschaftswunders“ hatte 1965 bei seiner Radio- und TV-Ansprache den Blick auch auf die Unfreiheit gerichtet, die damals im sowjetisch dominierten Teil Europas herrschte. Zur deutschen Kapitulation von 1945 sagte Erhard, dass dem „militärischen Zusammenbruch“ ein „geistiger und moralischer Verfall vorausgegangen“ sei.

Zehn Jahre später sprach Bundespräsident Walter Scheel anknüpfend an Heuss vom 8. Mai als „einem widersprüchlichen Tag in der deutschen Geschichte“. Der FDP-Politiker sagte: „Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. Und wir atmeten auf, als das Ende kam.“ In Scheels Erinnerung an das Kriegsende mischte sich aber auch „Schmerz“, da 1945 nicht nur die Hitler-Diktatur gefallen war, sondern auch das Deutsche Reich: „Es war für Generationen von Deutschen das Vaterland, das wir liebten, wie jeder Mensch auf der Welt sein Vaterland liebt. Sollten wir es weniger lieben, weil sich ein Diktator seiner bemächtigt hatte, oder weil es jetzt zerstört am Boden lag?“

Richard von Weizsäcker bezog dann in seinen vielbeachteten Ausführungen zum 40. Jahrestag klar Position: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Gleichwohl räumte der sechste Bundespräsident bei der Feierstunde im Bundestag 1985 auch den Kriegsopfern auf deutscher Seite Platz ein: „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten.“

Richard von Weizsäcker
Richard von Weizsäcker bei seiner wichtigen Rede am 8. Mai 1985. (Foto: dpa)

Jedoch dürfe man nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liege vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen“, verortete Weizsäcker die Verantwortung für die Kriegskatastrophe ganz klar bei Hitler. Und weiter: „Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

Weizsäcker bezeichnete den 8. Mai als einen „Tag der Erinnerung“ und führte aus: „Wir gedenken heute in Trauer aller Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben. Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.

Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mussten. (…) Wir denken an die Opfer des Widerstandes in allen von uns besetzten Staaten. Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten.“ Die Betonung der zahlreichen Opfer auf sowjetischer Seite sowie die Erwähnung des kommunistischen Widerstands waren zudem keine Selbstverständlichkeit in den 80er Jahren, als der Kalte Krieg noch nicht beendet war.

Weizsäckers Amtsnachfolger Roman Herzog legte zehn Jahre später den Akzent seiner Rede zum 50. Jahrestag des Kriegsendes auf das, was danach folgte: Der 8. Mai 1945 sei ein Tag, den er „vor allem als einen Tag begreife, an dem ein Tor in die Zukunft aufgestoßen wurde. Nach ungeheuren Opfern und unter ungeheuren Opfern. Aber doch ein Tor in die Zukunft.“ Das Kriegsende habe „eine Rückkehr zu den besseren geistigen Traditionen Europas und (…) auch Deutschlands“ bedeutet - eine Rückkehr in die Zukunft.

Zur Debatte, ob der 8. Mai 1945 für die Deutschen ein Tag der Niederlage oder ein Tag der Befreiung gewesen sei, sagte Herzog: „Diese Frage ist schon deshalb nicht sehr fruchtbar, weil sie den verschiedenen Erfahrungen verschiedener Menschen nicht ausreichend Raum gibt und das, obwohl meine Vorgänger Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker dazu schon Richtungweisendes, ja Abschließendes gesagt haben.“

Gerhard Schröder
Gerhard Schröder (l.) 2005 als deutscher Bundeskanzler bei den Siegesfeiern in Moskau. (Foto: dpa)

War Weizsäcker 1985 noch der Ansicht, die Deutschen hätten keinen Grund, sich an den Siegesfeiern zum Jahrestag des Kriegsendes zu beteiligen, sah dies 20 Jahre später schon anders aus. So nahm 2005 mit Gerhard Schröder erstmals ein deutscher Bundeskanzler an der russischen Siegesparade am 9. Mai in Moskau teil. Der ARD sagte der Sozialdemokrat damals, es sei „schon ein merkwürdiges Gefühl“, an den Feiern teilzunehmen. Doch zeige es endgültig, dass „Deutschland in die Staatengemeinschaft aufgenommen“ wurde.

Im Vorfeld seines Moskau-Besuchs hatte Schröder der russischen Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ gesagt: „Für Deutschland war der 8./9. Mai vor allem ein Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. Für viele Menschen ist mit diesem Datum aber auch die Erinnerung an Vertreibung, an die Teilung Deutschlands und Europas und an neue Unfreiheit verbunden. Das Datum markierte „den geistigen und politischen Neuanfang Deutschlands. Sein Ausgangspunkt war die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte als Voraussetzung für Frieden und Gerechtigkeit“.

Dass in den Jahrzehnten nach dem Krieg die Aussöhnung auch mit östlichen Nachbarn angesichts der Grauen des Weltkrieges und trotz des Kalten Krieges gelang, gehöre für ihn zu „den Wundern der europäischen Geschichte“, so Schröder.

In diesem Jahr war es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der an die Situation 1945 erinnerte und den Bogen zur Gegenwart spannte. Damals sei Deutschland militärisch besiegt, politisch und wirtschaftlich am Boden, moralisch zerrüttet gewesen. „Wir hatten uns die ganze Welt zum Feind gemacht.“ 75 Jahre später lebten die Deutschen „in einer starken, gefestigten Demokratie, im 30. Jahr des wiedervereinten Deutschlands, im Herzen eines friedlichen und vereinten Europa“. Der Tag der Befreiung sei für die Deutschen also „ein Tag der Dankbarkeit“.

Zur Befreiung von außen sei nach 1945 die „innere Befreiung“ durch die schmerzhafte Aufarbeitung des Geschehenen gekommen, erinnerte Steinmeier. „Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland reifen konnte.“

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte in diesem Jahr an das Kriegsende vor 75 Jahre. (Foto: dpa)

Einen Schlussstrich unter diesen Prozess lehnte Steinmeier strikt ab: „Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte.“ Wer einen Schlussstrich fordere, „entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben - der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie“. 1945 seien die Deutschen befreit worden. Heute müsse man sich selbst befreien, so Steinmeier und nannte „neuen Nationalismus, Hass, Hetze sowie „Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung“ als aktuelle Herausforderungen.

Der Bundespräsident bezeichnete die deutsche Geschichte als eine „gebrochene Geschichte“. Dies bedinge die Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. „Das bricht uns das Herz. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“ (AT/dpa)


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