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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Eine Wirtschaft mit Widersprüchen und das Inflationsproblem

Von Juan E. Alemann

Die argentinische Gesellschaft lebt gegenwärtig in einer Weltuntergangsstimmung, der die objektiven Zahlen über die wirtschaftliche Entwicklung widersprechen. Da die Regierung, wie es auch bei anderen Regierungen der Fall war, es nicht versteht die Lage objektiv darzustellen und dabei die Kritik zu entschärfen, erleidet die Regierung und ihre Partei einen politischen Schaden. Das beginnt damit, dass die Armut in der offiziellen Darstellung übertrieben und auch nicht in ihren Einzelheiten erklärt wird. Würde man die offizielle Darstellung wörtlich nehmen, müsste man überall Menschen sehen, die Haut und Knochen sind, und auf den Straßen sterben. Das ist zum Glück nicht der Fall.

Dennoch hat die Armut in den letzten vierzig Jahren (unter demokratischen Regierungen) stark zugenommen. Doch gleichzeitig hat auch eine quantitative und qualitative Besserung des allgemeinen Wohlstandes stattgefunden. Die vielen Automobile, die die Straßen und auch die Ausfahrtautobahnen der Stadt Buenos Aires verstopfen, in einem bisher nie dagewesenen Ausmaß, sind ein Wohlstandzeichen. Dabei sieht man in der Stadt Buenos Aires kaum noch ältere Modelle,und hingegen viele der Oberklasse. Es wurden in diesen Jahren auch viele Wohnungen gebaut. Die Stadt Buenos Aires erhielt im Bezirk Puerto Madero, am Río de la Plata, ab 1990 ein völlig neues Luxusviertel. Und in der Umgebung sind geschlossene Wohnviertel und Country Clubs entstanden und bestehende gewachsen. Die Flugreisen, sowohl im Inland wie in ferne Ziele der Welt, sind explosiv gestiegen. Und es kommen noch viel mehr Zeichen eines stark gestiegenen Wohlstandes hinzu.

Dabei muss man auch den Einfluss des technologischen Sprunges auf das tägliche Leben berücksichtigen. Die Telefonie war bis in die 90er Jahre ein Problem, mit unzähligen Haushalten ohne Telefonverbindung, während heute die meisten Menschen mit einem Mobiltelefon herumlaufen und ständig mit anderen sprechen. Auch das Internet hat unser Leben tiefgreifend verändert, ebenfalls das Fernsehen, mit einem viel höheren Angebot und viel besseren Fernsehgeräten.

Wenn man das Leben von heute mit dem vor 40 Jahren vergleicht, ist der Fortschritt deutlich bemerkbar. Doch die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (BIP) pro Kopf der Bevölkerung gibt dies nicht wieder. Etwas stimmt hier nicht, auch wenn man berücksichtigt, dass die Messung des BIP quantitativ ist, und qualitative Fortschritte nur zum Teil erfasst. Es ist Zeit, das BIP neu zu berechnen. Die technologische Revolution hat tiefe strukturelle Änderungen herbeigeführt, die die bestehende Methodologie nicht erfasst, zu denen noch viele andere hinzukommen, die unterschiedliche Ursachen haben. Auch die gestiegene Schwarzwirtschaft erschwert die BIP-Berechnung. Dass das BIP seit 2011 nicht gewachsen ist, wie es ständig wiederholt wird, stimmt einfach nicht.

Gehen wir jetzt auf die gegenwärtige Lage über. Die Wirtschaft hat sich vom schweren Schlag der Pandemie erholt, und ist darüber hinaus gewachsen. Der EMAE-Index, der eine grobe Schätzung des Bruttoinlandsproduktes auf Grund kurzfristig verfügbarer Daten ist, lag im August, um 6,4% über dem Vorjahr. Der allgemeine Konsum hat sich im ersten Jahreshalbjahr gut entwickelt, und zeigt erst in den letzten Monaten Schwächezeichen, die jedoch keine tiefe Rezession zum Ausdruck bringen. Das Wirtschaftsministerium rechnet für dieses Jahr mit einer Zunahme des Bruttoinlandsproduktes von 4%, was viel ist und gewiss nichts mit Rezession zu tun hat. Nächstes Jahr sollen es plus 2% sein. Doch das kann man bezweifeln.

Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit gefallen und liegt mit 7% der aktiven Bevölkerung nur um 3 Prozentpunkte über der friktionellen Arbeitslosigkeit, die aus denjenigen besteht, die ihre erste Arbeit suchen oder ihren Arbeitsplatz wechseln, oder eine bessere Beschäftigung haben wollen, als die, die ihnen geboten wird. Die anormal hohe Schwarzwirtschaft hat für Beschäftigung gesorgt. Es sind meistens keine gut bezahlten Arbeitsplätze, aber sie sind besser als gar keine. Ebenfalls stimmt die Nachfrage, in ihrer qualitativen Zusammensetzung, nicht mit dem Angebot zusammen. Es fehlen Fachkräfte auf bestimmten Gebieten, und es gibt ungelernte Arbeiter im Überfluss.

Die gute Konjunktur hat schon aufgehört. Es kommen immer mehr Zeichen von rückläufiger Entwicklung in den letzten Monaten auf. Objektiv beruht dies auf der Kürzung der Staatsausgaben, der Erhöhung der Tarife öffentlicher Dienste, der starken und langandauernden Dürre und dem Mangel an importierten Teilen für die Industrie, sowie den Streiks und besonders Konflikten wie der der Reifenindustrie, und nicht zuletzt auf einer Abkühlung der Konjunktur auf der Welt und auf die Wirkung der Verhärtung der Geldpolitik in den USA und der EU.

Die Regierung wird sich in den kommenden Wochen mit einer zunehmenden Rezession zurecht finden müssen, und das ist nicht einfach, Abgesehen von der direkten Wirkung auf die Staatseinnahmen, die auch zu einer Zunahme des Defizits führt, wirkt sich dies negativ auf die soziale Lage aus und schafft ein zusätzliches politischen Problem.


Das Inflationsproblem

Die Tatsache, dass die Entwicklung viel negativer gesehen wird als sie bisher ist, beruht hauptsächlich auf der hohen Inflation, mit der die Regierung nicht fertig wird, wobei die Gefahr besteht, dass es schließlich zur Hyperinflation kommt, mit monatlichen Inflationsraten von über 20%.

Die argentinische Hochinflation hat drei Ursachen. Einmal beruht sie auf der Geldschöpfung, deren Hauptursache das Defizit der Staatsfinanzen ist, das nicht mit zusätzlicher Verschuldung gedeckt wird. Hier wurde schon ein Fortschritt erreicht, wobei das Abkommen mit dem IWF eine Grenze bei der Geldschöpfung festgesetzt hat, die bisher eingehalten wurde. Aber es fehlt noch viel, um das Defizit der Staatsfinanzen (nicht nur das primäre, sondern auch das finanzielle und das verkappte, das nicht offen zugegeben wird, wie die Leliq-Zinsen) voll zu decken. Dennoch hat Massa schon Erfolge erreicht, und arbeitet ständig in diesen Sinn, mit Fortschritten auf der einen Seite und Rückschritten auf der anderen, die er nicht immer in Grenzen halten kann. Denn die Politik funkt ständig dazwischen.

Das zweite Problem besteht bei der Zahlungsbilanz und dem Wechselkurs. Wenn die ZB nicht in der Lage ist, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage von Devisen zu erhalten, und ein Fehlbetrag auftritt, dann besteht die Gefahr, dass der Kurs nicht mehr verwaltet werden kann und es zu einem Abwertungssprung kommt, der die Inflation in die Höhe treibt, nicht nur, weil er sich auf die Preise importierter Güter und auch von Exportgütern auswirkt, die auch im Land konsumiert werden (Weizen, Fleisch und viele andere), sondern weil dies viele Unternehmen dazu führt, die Preise zu erhöhen um sich bei erwarteten höheren Wiederbeschaffungspreisen zu decken.

Massa hat das Problem mit dem Sojadollar, der sehr erfolgreich war, zunächst hinausgeschoben. Doch im letzten Quartal 2022 tritt es verstärkt auf, einmal weil die schon exportierte Sojabohne nicht mehr da ist, dann weil auch der Bestand von Mais u.a. Arten gering ist, und schließlich, weil wegen intensiver Dürre und Frost eine niedrige Weizenernte erwartet wird, von bestenfalls 15 Mio. Tonnen, nachdem ursprünglich 21 Mio. erwartet wurden. Die ZB sieht sich somit gezwungen, die Importkontingentierung zu verschärfen, was schon stufenweise eingeleitet wurde. Doch das wird sich unvermeidlich auf viele Produktionsprozesse auswirken, Knappheitserscheinungen hervorrufen und auch Preiserhöhungen bewirken. Was schließlich für niedrigere Importe sorgt ist die Rezession, die zunehmend in Erscheinung tritt und tiefer als erwartet sein kann. Das BIP kann unter den bestehenden Umständen in den kommenden Monaten im interannuellen Vergleich leicht um 5% zurückgehen.

Der dritte Inflationsfaktor ist der schwierigste: die Lohnentwicklung. Die Preis-Lohnspirale dreht sich immer schneller. In den letzten Jahren hat sich die These der Erhaltung des Reallohnes durchgesetzt, die die Gewerkschaften vertreten und auch der Präsident Alberto Fernández unvorsichtigerweise betont. In der Praxis bleibt der Reallohn trotz bedeutender nomineller Erhöhungen zurück, weil die Zulage in Raten berechnet wird, so dass der Jahresdurchschnitt hinter der durchschnittlichen Preiszunahme der Periode zurückbleibt. Doch das ist eine direkte Folge der hohen Inflation, ohne die ein Reallohn bestehen würde, den die Unternehmen nicht bezahlen können. Im staatlichen Bereich werden die Personalausgaben und die Pensionen und Hinterbliebenenrenten real durch die hohe Inflation gesenkt. Paradoxerweise wäre somit das Defizit höher, wenn die Inflation zurückgehen würde.

Objektiv gesehen, sind die Reallöhne in Argentinien viel niedriger als es sein sollte, wenn man Vergleiche mit der USA und EU-Staaten macht, die die Löhne in einem Verhältnis zur Produktivität stellen. In einer Wirtschaft wie die argentinische sollten sie viel höher sein. Aber in der Praxis ist es nicht möglich, die Reallöhne allgemein kurzfristig zu erhöhen. Bei Stabilisierung müssten die Reallöhne zunächst abnehmen. Und das ist für die Gewerkschaften nicht annehmbar, und für die Regierung schwer zu verkraften.

Nebenbei bemerkt: das gleiche Problem ist auch unter der Alfonsín-Regierung (1983/1989) aufgekommen, als sein Wirtschaftsminister Juan Sourrouille einen Stabilisierungsplan durchsetzte, der am Anfang sehr erfolgreich war, auch politisch (die Zwischenwahlen von Ende 1985 waren für die Regierungspartei sehr erfolgreich), bis Alfonsín dem Gewerkschafter Lorenzo Miguel eine Lohnerhöhung von 35% gewährte, die Sourrouille vorher abgelehnt hatte. Und kurz danach ernannte er einen Gewerkschafter zum Arbeitsminister, der nicht für die Stabilität eintrat. Danach ging die Inflation wieder nach oben und endete in der Hyperinflation von Februar-März 1989, die zum vorzeitigen Ende der Alfonsín-Regierung führte.

Die Diskussion zwischen Sourrouille und seinen Ökonomen mit Alfonsín und den radikalen Politikern, wird sehr gut im Buch des Soziologen und Beraters von Sourrouille, Juan Carlos Torre (“Tagebuch einer Periode im 5. Stock”, was sich auf das Wirtschaftsministerium bezieht) beschrieben. Cristina hat vor einigen Monaten gesagt, sie habe Alberio Fernández dieses Buch geschenkt. Es wäre gewiss gut, wenn der Präsident es lesen würde. Frage: Hat sie es gelesen? Oder hat es ihr Kicillof empfohlen?

Um die Inflationsraten zu senken und in absehbarer Zeit auf eine “zivilisierte” Inflation zu gelangen, die zunächst unter 20% jährlich, und so bald wie möglich unter 10% liegen müsste, ist es unerlässlich, dass die nominellen Lohnerhöhungen, die normalerweise jährlich und jetzt kontinuierlich erfolgen, mit dem Inflationsziel, und nicht mit der vergangenen Inflation, im Einklang stehen. Forderungen von etwa 100% und jetzt bei den Lastwagenfahrern 131%, sind heller Wahnsinn. Es ist positiv, dass die neue Arbeitsministerin, Kelly Olmos (die in Wirklichkeit Raquel Kismer de Olmos heißt) die Forderung des Gewerkschafters Pablo Moyano von 131% scharf kritisiert hat. Das bedeutet, dass sie die korrekte Richtung eingeschlagen hat, und dabei Massa zum Erfolg verhilft. Ihr Vorgänger, Claudio Moroni, intimer Freund des Präsidenten, ist einem Konflikt mit den Gewerkschaften stets ausgewichen und hat mit seiner nachgiebigen Haltung nur erreicht, dass diese ihre Forderungen weiter erhöhten.

Massa muss jetzt erreichen, dass Frau Olmos konkrete Schritte unternimmt. Es wäre gut, wenn er ihr gute Berater beiseitestellen würde, und zwar nicht nur Arbeitsrechtler, sondern Ökonomen, die den wirtschaftlichen Inhalt der Lohnpolitik und Arbeitsgesetzgebung verstehen. Frau Olmos ist auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und der Arbeitsproblematik ein unbeschriebenes Blatt. Und das ist gut so. Sie hat auf alle Fälle schon gezeigt, dass sie keine Vorurteile hat, muss aber jetzt viel tiefer eingreifen. Die Lohnerhöhungen müssen stark begrenzt werden, die Streiks müssen geregelt und wenn sie in Gewalt ausarten, verboten und bestraft werden, und die Beschäftigung und die Produktivitätszunahme müssen gefördert werden. Sonst gibt es keine Stabilisierung.

Diese Entscheidungen hängen letztlich vom Präsidenten ab. Dabei sollte er davon ausgehen, dass eine rückläufige Entwicklung der monatlichen Inflation politisch positiv wirkt. Alfonsín hat bei einer Zwischenwahl, die einige Monate nach Einführung des Austral-Planes erfolgte, der damals sehr erfolgreich war, auch ein gutes Ergebnis erreicht. Leider hat er dies nicht verstanden, und danach ist es ihm wirtschaftlich und politisch schlecht gegangen. Sourrouille hatte ständige Gespräche mit dem Präsidenten und diese sollte auch Massa, und vor allem sein zweiter Mann, Gabriel Rubinstein, u.a. Ökonomen seiner Mannschaft, mit Alberto Fernández haben. Sie müssen vermeiden, dass er von Politikern, Gewerkschaftern und Schwätzern beeinflusst wird. Nur so kann vermieden werden, dass er wie Alfonsín oder noch schlimmer endet.


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