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Durchs Leben flaniert man nicht

Im Gespräch mit Autor David Wagner

Von Catharina Luisa Deege

Wagner
Der deutsche Schriftsteller war Gast auf der Buchmesse Buenos Aires. (Foto: Linda Rosa Saal)

Buenos Aires (AT) - „Alle zwanzig Jahre tauscht sich die Hälfte der Bevölkerung Berlins aus“, erklärt David Wagner. „Das sind alles Menschen, die das Bedürfnis danach haben, Berlin zu verstehen.“ Der deutsche Schriftsteller wurde in einer kleinen Stadt am Rhein geboren und hat mittlerweile über zwanzig literarische Werke veröffentlicht; darunter auffällig viele Bücher mit Bezug zur deutschen Hauptstadt. Nun war der preisgekrönte Autor vergangene Woche auf Einladung des Goethe-Instituts in der argentinischen Hauptstadt zu Besuch: Dem Argentinischen Tageblatt erzählte er, wie es ist, über die eigene Krankheit zu schreiben, warum Spazierengehen in Selbsterniedrigung ausarten kann und welches berühmtes Gebäude es ihm hier in Argentinien besonders angetan hat.


Bis zur Stadtgrenze immer geradeaus

Das Bedürfnis, Berlin zu verstehen, verspürt der 51-Jährige unweigerlich selbst. Drei Bücher sind seit seinem Umzug im Jahr 1991 quasi beim Spazierengehen durch die Bundeshauptstadt entstanden - immer im Abstand von zehn Jahren. „Ich hatte richtige Spazierfreunde und -freundinnen, mit denen ich so heroische Spaziergänge gemacht habe: in Mitte losgehen und bis zur Stadtgrenze immer geradeaus“, so David Wagner. Schon vor der Pandemie sei er gerne zu Fuß unterwegs gewesen. Er sieht es als Verkehrsmittel an, als Flaneur bezeichnet er sich nicht. „Das Schöne ist halt, dass man dabei so viel sieht und Menschen trifft und wunderbar nachdenken kann. Meistens fühlt man sich danach auch besser.“

Und gerade Berlin sei dabei interessant - schließlich hat sich in den letzten dreißig Jahren einiges am Stadtbild verändert. „Das ist halt das Besondere dieser Jahrzehnte seit dem Mauerfall, weil sich die Stadt wirklich gefüllt hat, zugebaut wurde und sich das normalisiert hat auf eine Art.“ Trotz der mittlerweile dicht besiedelten Brachen sei Weltgeschichte in Berlin „an ihren Bruch- und Schnittstellen so sichtbar wie kaum in einer anderen Stadt“, merkt Wagner an. Dafür ist nicht jeder Winkel der Stadt pittoresk; Wagner komme es beim Spaziergang jedoch auch eher darauf an, sich der Wirklichkeit auszusetzen - und die kann manchmal verdammt hässlich sein. Er nennt das „Selbsterniedrigung durch Spazierengehen“.


Ich bin (k)ein Berliner

Auch während seiner Zeit in Buenos Aires lernte der Autor große Teile der Stadt zu Fuß kennen. Dabei haben ihn hauptsächlich Bauten interessiert, an denen der/die normale Porteño/a schlicht vorbeigehen würde. „Ich interessiere mich architektonisch für das Alltägliche, Banale oder Übersehene.“ Wagner verweist auf ein Posting seines Instagram-Profils. Darauf zu sehen: abgewrackte Häuser, davor Mülltonnen, Bilder von bunten Graffitis und kitschigen Kiosk-Fassaden. Eine Ausnahme gibt es jedoch: Ihn fasziniert die Nationalbibliothek. „Das ist ein großartiges, brutalistisches Gebäude.“

Der Schriftsteller, dessen erster Roman „Meine nachtblaue Hose“ im Jahr 2000 erschien, kennt sich neben Berlin, Andernach und Buenos Aires auch noch in vielen weiteren Städten der Welt aus. Ende der 90er-Jahre lebte er für 10 Monate in Mexiko-Stadt, in China habe er eine Gastprofessur und zu Recherchezwecken ist er in der letzten Zeit häufig in Istanbul. In seinem 2016 veröffentlichten Roman „Ein Zimmer im Hotel“ beschreibt er auf humorvolle Art die Eigenheiten des Reisens. Im Interview erklärt David Wagner, dass er seine ganz persönliche Strategie hat, mit neugierigen Einheimischen oder Mitreisenden umzugehen: „Wenn ich gefragt werde, woher ich komme und ich mich für die Person interessiere, dann sage ich, ich bin aus Berlin - und dann gibt’s immer ein Gespräch“, so der Schriftsteller. „Wenn mich das nicht so interessiert, dann sage ich, ich bin aus Deutschland. Da hört das Gespräch meistens auf“, amüsiert sich Wagner.


Zwischen Glücks- und Schuldgefühlen

Sein Lachen verblasst und der Ton wird ernster, als er auf eine Frage zu seinem 2013 erschienenen Roman „Leben“ antwortet. Für das Werk erhielt David Wagner den Preis der Leipziger Buchmesse. Es handelt von einem Patienten, der an einer Autoimmunhepatitis leidet und schließlich eine fremde Leber transplantiert bekommt. Es handelt jedoch vor allem von der Erfahrung, viel, viel Zeit im Krankenhaus zu verbringen. Dabei philosophiert der Protagonist vor sich hin, hört Zimmernachbarn und -nachbarinnen zu und träumt. Es handelt sich bei der Geschichte um Wagners eigenes Schicksal.

Als der Autor selbst im Krankenhaus war, habe er zwar bereits viele Eindrücke notiert, musste das Erlebte jedoch erst einmal sacken lassen, bevor er sich an den Schreibtisch setzen und anfangen konnte, „Leben“ zu verfassen. „Ich wollte halt auch verstehen, was da passiert ist oder was das mit mir gemacht hat: was das bedeutet, wenn jetzt ein Mensch mit dem gespendeten, geschenkten Organ einer anderen Person, die nicht mehr lebt, weiterleben kann. Das ist ja eigentlich absurd“, holt der Literaturwissenschaftler aus, der im Jahr 2007 eine Leberspende erhielt. „Es ist Dankbarkeit, Schuld, es ist ein großes, eigentlich unbeschreibliches Gefühl - und das hat mich eben interessiert.“

Kritiker*innen feiern Wagner für die Mischung aus schwarzem Humor, Zynismus und Hoffnung in „Leben“. Das Buch wurde insgesamt in 16 Sprachen übersetzt, unter anderem ins Spanische. „Für einen deutschen Schriftsteller ist es ein großes Glück, übersetzt zu werden“, formuliert der 51-Jährige. Ein öffentliches Gespräch mit der argentinischen Autorin Carla Maliandi vergangenen Sonntag auf der Feria del Libro bildete den Abschluss Wagners Buenos-Aires-Reise. Verkauft wurde dort auch „Vivir“, die bislang nur in Spanien erhältliche Version David Wagners autobiografischen Romans.



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