Von Juan E. Alemann
Argentinien ist ein Land der Widersprüche, und besonders deshalb schwer zu verstehen. Wenn wir auf die letzten 40 Jahre zurückblicken, bemerken wir auf der einen Seite eine bedeutende Zunahme der Armut, sowohl gemessen am Einkommen der Bevölkerung wie an der Zahl und Umfang der Elendsviertel. Auch wenn die offizielle Zahl übertrieben erscheint, weil die Befragung der INDEC-Beamten oberflächlich und unvollständig ist, und Naturaleinkommen beiseitelässt, hat die Zahl der Armen zugenommen. Doch auf der anderen Seite sind in dieser Periode sichtbare Wohlstandszeichen aufgekommen, wie die explosive Zunahme des Automobilparks und die überfüllten Straßen, die vielen neuen geschlossenen Wohnviertel und Country Clubs, das neue Stadtviertel Puerto Madero, die Rekordernten von Getreide und Ölsaaten, die gut drei und viermal so hoch wie vor 40 Jahren liegen, die starke Zunahme der Bergbauproduktion, die Verbreitung der Informatik und der Mobiltelefonie, und vieles andere.
Allgemein sieht es in der Wirtschaft nicht so schlimm aus, wie es dargestellt wird. Die pandemiebedingte Rezession wurde inzwischen schon aufgeholt, die Arbeitslosigkeit ist relativ niedrig, mit 7% der aktiven Bevölkerung, die in Wirklichkeit weniger sind, weil viele Menschen gegenüber dem INDEC-Beamten ihre effektive Arbeit nicht angeben, weil sie befürchten, belästigt zu werden oder ihre Subvention zu verlieren. Interessant ist auch die jüngste Meldung des Landwirtschaftsministeriums über den Rindfleischkonsum. Pro Kopf der Bevölkerung lag er im 1. Halbjahr 2022 über dem Vorjahr, und das kann man nicht auf einen höheren Konsum der Wohlhabenden zurückführen. Denn diese konsumieren immer etwa gleich viel. Argentinien steht beim Rindfleischkonsum pro Kopf weltweit an oberster Stelle, gefolgt von Uruguay und den Vereinigten Staaten. Das Landwirtschaftsministerium fügt noch mehrere Daten hinzu. Die Schlachtungen lagen im 1. Halbjahr 2022 bei 6,48 Mio. Rindern, 2% über der gleichen Vorjahresperiode. Doch die Rindfleischproduktion ist in der gleichen Periode um 4% gestiegen weil das Durchschnittsgewicht der geschlachteten Rinder seit 2020 um 7 kg, auf 231 kg gestiegen ist. Das zeugt von einem Fortschritt bei der Mästung. Es gibt noch viele andere Fortschritte dieser Art.
Der angesehene Konsumexperte Guillermo Olivetto weist in einem Artikel in der Zeitung “La Nación” darauf hin, dass der Konsum allgemein im 1. Halbjahr 2022 gestiegen ist, und in keiner Weise die gedrückte Stimmung zum Ausdruck bringt. Erst im Juni und Juli sieht er Zeichen einer Abkühlung der Konjunktur.
Präsident Alberto Fernández erklärte unlängst, die Krise sei im Wesen eine Wachstumskrise, die zu Engpässen geführt habe. Er wurde allgemein ausgelacht. Doch er hat insofern recht, als die Zahlen, die die wirtschaftliche Lage spiegeln, wie die Industrieproduktion, die Tätigkeit der Bauwirtschaft, der Stromkonsum und die Beschäftigung, bis vor kurzem eine positive Entwicklung aufzeigten. Aber der Präsident und seine engen Mitarbeiter haben es nicht verstanden, den Fall eingehend zu erklären.
Obwohl stets behauptet wird, dass nicht investiert wird, ist es in der Tat so, dass ständig neue private Investitionen bekanntgegeben werden, über die wir in unserer Rubrik “Geschäftsnachrichten” jede Woche berichten. In vielen Fällen sind es bedeutende Investitionen, ganz besonders im Bergbau, aber auch in der Industrie, und in den meisten kleinere, die eine große Wirkung haben, weil in vielen Fällen dabei ein größerer Produktionsprozess effizienter gestaltet wird. In der Landwirtschaft weist der hohe Verkauf von Traktoren, Saat- und Erntemaschinen und allerlei Geräten, auf hohe Investitionen hin. Der phänomenale technologische Fortschritt unserer Zeit, der sich nicht nur auf Informatik bezieht, stellt viel Unternehmen vor die Entscheidung, entweder zu investieren und die Entwicklung zu begleitet, oder zu schließen.
Es wird allgemein behauptet, dass die Wirtschaft nicht wachsen kann, weil nicht investiert wird. Das stimmt einmal deshalb nicht, weil doch viel investiert wird, aber dann auch nicht, weil die Kapazitätsauslastung der Industrie allgemein unter 70% liegt, und schließlich auch nicht, weil das Wachstum, hier und auf der ganzen Welt, gemäß eingehenden Studien über Wachstumsursachen, bestenfalls zur Hälfte auf materiellen Faktoren beruht, also mehr Kapital, mehr Einsatz von Arbeitskräften und mehr Einsatz von natürlichen Ressourcen. Die andere Hälfte (und auch mehr) beruht auf Effizienzfortschritten, Einsatz neuer Technologie, Ausbildung u.a. immateriellen Faktoren. Argentinien verfügt über eine große Zahl von intelligenten und gut ausgebildeten jungen Menschen (und auch nicht so jungen), die die neue Technologie aufnehmen, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Die Wachstumsfaktoren sind vorhanden, und wenn es trotzdem kein Wachstum, oder nur ein ungenügendes gibt, so ist das nur darauf zurückzuführen, dass die Regierung dem entgegenwirkt.
Was das Verständnis der argentinischen Wirtschaft noch mehr trübt, sind die tiefgreifenden Änderungen, die in den letzten Jahren eingetreten sind, bedingt durch die Pandemie, die technologische Revolution, den Ukraine-Krieg und die neue monetäre Politik, die die Vereinigten Staaten und die EU-Staaten in den letzten Jahren eingeleitet haben. Halten wir außerdem als erstes fest, dass die Schwarzwirtschaft und die schwarze Beschäftigung stark zugenommen haben, was die Struktur der Wirtschaft grundlegend verändert hat und die Erfassung der Wirtschaft erschwert. Gleichzeitig hat ein Sprung bei der Einführung der Informatik stattgefunden, der zum Teil mit einer höheren Fernarbeit zusammenhängt, aber im Grunde eine rationelle Reaktion auf den Druck auf die Kosten darstellt. Dabei hat sich auch der Handel verändert: es wird viel mehr als früher über Internet gekauft, und dann in die Wohnung geliefert.
All das, was wir hier erklären, führt zum Schluss, dass Argentinien bei Überwindung der gegenwärtigen Finanzkrise einen Wachstumssprung erleben kann. Einmal müssen die Staatsfinanzen geordnet werden, was objektiv gesehen, nicht so schwierig sein sollte. Dann muss die Inflationsrate stark gesenkt werden, zunächst auf etwa 20% jährlich, dann auf eine einstellige Zahl und schließlich auf unter 3%, was als Stabilität bezeichnet wird. Und dann muss es einen Fortschritt bei der Geltung der Vernunft geben. Die Regierung muss rationell und nicht ideologisch noch demagogisch handeln, und die Wirtschaftspolitik nicht den kurzfristigen politischen Zielen unterordnen.
Es wäre gut, wenn die Regierung sich bemühen würde, die positiven Zeichen der Entwicklung zu verbreiten, und dabei dem tiefen Pessimismus der Gesellschaft entgegenzuwirken. Denn dieser wirkt rezessiv, u.a. weil die Unternehmer sich dann so verhalten, dass sie mit zur Rezession beitragen. Es ist die bekannte selbsterfüllte Prophezeiung. Was die Regierungssprecherin Gabriela Cerruti vermittelt ist in Ordnung, bezieht sich aber nur auf das Tagesgeschehen. Es bedarf einer viel tiefgründigeren Arbeit von gut geschulten Ökonomen (die es im Überfluss gibt), deren Ergebnisse dann über die Presse und das Fernsehen verbreitet werden. Auch die Opposition sollte sich Gedanken über dies machen.
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