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Die Wirkung der kreativen Zerstörung

Von Juan E. Alemann

Schumpeter
Josef Schumpeter. (Foto: Alchetron)

Der österreichische Ökonom Josef Schumpeter hat vor fast einem Jahrhundert den Begriff der “kreativen Zerstörung” eingeführt, der sich darauf bezieht, dass gelegentlich bestimmte wirtschaftliche Strukturen, Vorgänge und auch Produkte verschwinden müssen, um Raum für dem Fortschritt zu schaffen. Schumpeter galt seinerzeit unter Ökonomen als leicht exzentrisch, wird aber jetzt, in der Epoche der technologischen Revolution, immer mehr anerkannt. Auch seine Theorie, dass der Gewinn der Unternehmen das Ergebnis des Fortschrittes und Wandels sei, und bei Stagnation verschwindet, erscheint nicht mehr übertrieben. Es genügt heute für ein Unternehmen nicht, effizient zu sein: es muss immer effizienter und auch innovativ sein, um weiter bestehen zu können. Die Welt ist eben schumpeterianisch geworden.

Jorge Castro, der über diese u.a. Dinge viel nachdenkt, weist in einem Artikel in der Zeitung Clarín (18.10.20, Wirtschaftsbeilage) darauf hin, dass die Vereinigten Staaten infolge der Coronapandemie bei der technologischen Revolution, die sich seit langem in Gang befindet, einen kolossalen Schub bekommen haben. In den letzten drei Monaten habe eine phänomenale kreative Zerstörung stattgefunden, die sich im Wesen auf die Übertragung von unternehmerischen Initiativen und Investitionen, und auch der Arbeitskräfte, auf Objekte bezieht, die mit fortgeschrittener Technologie zusammenhängen und einen Produktivitätssprung beinhalten. Dabei erleiden traditionelle Unternehmen einen Schaden, der in die Rubrik “kreative Zerstörung” fällt und der Preis für den Fortschritt ist.

Die Zahl der “Start-ups” auf dem Gebiet der fortgeschrittenen Technologie sei dieses Jahr in den USA um 18,5% höher als im Vorjahr, und 90% dieser neuen Unternehmen sind hochdigitalisiert, mit einem Kapital, das fast vollständig aus nicht materiellen Faktoren besteht, wie Technologie und Wissen. Gesamthaft sei die Investition in diesen unsichtbaren Objekten im 1. Halbjahr 2020 um 11% höher als im Vorjahr, und für ganz 2020 wird eine interannuelle Zunahme von 15% bis 20% erwartet. Über 70% der Investitionen entfallen 2020 in den USA auf diese nicht materiellen Objekte, nämlich Einführung und Schaffung von Informatiksystemen, neuen Formen der Fernverbindung (Zoom) u.a. neuartigen Arbeitsmethoden. Die automatischen Maschinen, die immer mehr vordringen, enthalten auch viel Computeranlagen und –systeme.

Kehren wir nun zu Argentinien zurück. Auch hier hat etwas ähnliches stattgefunden, aber nicht so intensiv, weil die Wirtschaftsstruktur viel starrer als in den USA ist, und auch die Arbeitsgesetzgebung als Hindernis wirkt. Pandemie und Quarantäne haben der Heimarbeit einer phänomenalen Auftrieb verliehen. Wenn sich die Lage normalisiert (voraussichtlich Anfang nächsten Jahres, wenn geimpft wird), dann kehren viele Menschen wieder zu ihrem früheren Arbeitsplatz in einem Büro zurück. Aber viele werden weiter ganz oder zumindest an einigen Tage zu Hause arbeiten. Ein Fall, der uns bekannt wurde, bezieht sich auf eine Firma, die viele Angestellte beschäftigt und beschlossen hat, ein ganzes Stockwerk zu räumen und ein System einzuführen, bei dem viele Angestellte als Norm zu Hause arbeiten, und wenn sie sich in ihre Firma begeben, vorher ein Büro oder einen Versammlungsraum reservieren müssen. Das Unternehmen spart dabei viel Geld, und die Angestellten, die zu Hause arbeiten, sparen Transportzeit (Hin und zurück oft über 2 Stunden) und Transportkosten. Es ist gesamthaft ein Produktivitätssprung. Doch auch bei denen, die zurück zu ihrem traditionellen Arbeitsplatz kommen, hat sich einiges verändert. Sie haben gelernt oder sich daran gewöhnt, Internet und Zoom mehr einzusetzen und ihre Arbeit in diesem Sinn zu rationalisieren.

Ebenfalls hat der Kauf über Internet und Lieferung ins Haus stark zugenommen, und das verbleibt auch weitgehend. Das hat als weitere Folge, dass der Einzelhandel zum Teil vom Geschäft, in das der Kunde kommt, auf ein Lagerhaus übergeht, von dem aus die Kunden über ein Netz von Motorradfahrern bedient werden.

Es ist nicht einfach sich die Konsequenzen dieser Entwicklung vorzustellen, denn dabei muss man an die Folgen der Folgen denken. Wir leben schon seit über zwei Jahrzehnten in einer ganz andern Welt, mit Mobiltelefonen, die fast alle haben, tragbaren Computern (Laptops), die immer leistungsfähiger werden, Internet und Datenspeicherungsanlagen von unbegrenzter Kapazität, wobei der Zugang zu einer immensen Information allgemein verfügbar ist und auch Bücher mit einem “Tablet” über Internet gelesen werden können. Die Zahl dieser Bücher entspricht einer unvorstellbar großen Bibliothek. Frage: Haben Bibliotheken dann noch einen Sinn? Diese Entwicklung hat die Fabrikation von Schreibmaschinen zerstört.

Die Informatik hat auch zu einer weltweiten Vernetzung der Arbeit geführt. Konkrete Leistungen für ein Land können in einem anderen vollzogen werden. Das hat schon dazu geführt, dass in Argentinien viel Computerarbeit für die USA u.a. fortgeschrittene Staaten verrichtet wird, denn Gehälter, die in Argentinien als hoch betrachtet werden, liegen dabei unter der Hälfte (und zum schwarzen Kurs unter einem Viertel) der nordamerikanischen. Das Problem, das sich gegenwärtig dabei stellt, ist dass diese Gehälter weitgehend schwarz bezogen werden, weil sie dann zum schwarzen Kurs in Pesos umgewandelt werden und kaum jemand bereit ist, über die Hälfe zu verlieren, weil er die Umwandlung über den offiziellen Kurs vollzogen hat. Argentinien hat schon einen Informatikexport von u$s 6 Mio. jährlich erreicht, der in Wirklichkeit jedoch höher ist, weil ein Teil nicht angegeben wird und die Lieferung über Internet nicht kontrolliert werden kann.

Die Entwicklung, die wir hier beschrieben haben, zwingt auch, die Arbeitsgesetzgebung und das Ausbildungssystem neu zu durchdenken. Bezüglich Fernarbeit wurde schon vor einigen Monaten ein Gesetz erlassen, das jedoch korrekturbedürftig ist. Es geht hier darum, dass die Arbeit im Büro in Stunden gemessen wird, die Arbeit zu Hause hingegen in konkreten Leistungen, die theoretisch einer bestimmten Zeit entsprechen.

Die Unternehmen sind nicht gewohnt, die Arbeit gemäß bestimmten Leistungen zu messen, so dass noch Erfahrung fehlt, die gelegentlich dem Gesetz einverleibt werden sollte.

Doch abgesehen davon muss die Arbeitsordnung elastischer gestaltet werden. Anstellungen und Entlassungen, Verschiebungen von einer Tätigkeit auf eine andere in einem Unternehmen, Gruppenarbeit, bei der individuelle Tätigkeiten zusammengeführt werden und Engpässe überwunden werden, all das muss erleichtert werden. Die bestehende Arbeitsgesetzgebung erscheint jetzt noch mehr überaltert, als sie es schon vorher war. Ebenfalls muss die Ausbildungsmöglichkeit auf dem Informatikgebiet für Arbeitnehmer bestehen, damit sie sich der neuen Welt anpassen können. Denn sonst bleiben viele Arbeitnehmer von der Arbeitswelt ausgeschlossen. In den Fabriken wird diese Entwicklung mit einer umfassenden Automatisierung begleitet, die viel weniger Arbeiter benötigt. Es ist somit besonders wichtig, dass sie geschult werden, um auf die neuen Arbeitsplatz übergehen zu können, und das muss steuerlich gefördert werden. Auch die Ausbildung in Schulen und Universitäten muss sich dieser neuen Realität anpassen.

Wenn diese Entwicklung nicht berücksichtigt wird, dann wird nicht nur das wirtschaftliche Wachstum gehemmt, sondern auch eine strukturelle Arbeitslosigkeit geschaffen, die nicht nur ein soziales Problem darstellt, sondern auch Druck auf die Politiker ausübt, damit sie mehr Beamte im Staat anstellen. Dieser Druck ist schon jetzt deutlich bemerkbar, mit immer mehr neuen völlig unnötigen Ämtern, die nur dazu dienen, Freunden und politischen Anhängern eine bezahlte Arbeit zu erteilen. Doch das kann nicht ewig weitergehen, weil kein Geld dafür da ist. Schon jetzt müsste die Zahl der Staatsangestellten abgebaut werden.

Die Arbeitslosigkeit liegt jetzt, richtig berechnet (aber an Hand der offiziellen Zahlen), um die 30% der aktiven Bevölkerung, was über 6 Mio. Menschen ergibt. Von diesen beziehen nur wenige die Arbeitslosenversicherung, während andere eine Pension oder sonst ein Einkommen haben. Es verbleiben dabei mehrere Millionen, die vor dem Nichts stehen. Dieser Zustand sollte so viel Druck auf die Gesellschaft und die Gewerkschaften ausüben, dass endlich dem Beschäftigungsproblem Vorrang vor der Erhaltung und Zunahme des Reallohnes gegeben wird. Auch das wäre ein Sprung in die Zukunft.

Die Geschichte lehrt, dass oft extreme Krisen und auch Kriege strukturelle Änderungen herbeiführen, die eigentlich schon reif waren, aber nicht vorankamen. So hat z.B. der 2. Weltkrieg die Weltwirtschaft total verändert, und spätere Krisen haben auch tiefgreifende Änderungen herbeigeführt. Die durch den Coronavirus verursache Krise wird auch die Weltwirtschaft dauerhaft verändern, was auch eine Ausstrahlung auf Argentinien haben wird, die zur direkten Wirkung im Land hinzukommt.

Schließlich noch eine Bemerkung: diese strukturellen Veränderungen der Wirtschaftsstruktur führen zur Notwendigkeit, das Bruttoinlandsprodukt neu zu berechnen. Dabei wird sich ergeben, dass das BIP, gesamthaft und pro Einwohner, viel höher ist, als es das INDEC angibt. Denn vieles, was 1994 bestand, als die Grundlage der bestehende BIP-Berechnung festgesetzt wurde, gibt es nicht mehr, oder in geringerem Umfang, was das BIP nach unten drückt, und es sind gleichzeitig neue Bereiche aufgetreten, die damals gar nicht oder ungenügend berücksichtigt wurden, deren Einschluss das BIP erhöht. Abgesehen davon sind in den letzten Jahrzehnten viele qualitative Änderungen eingetreten, die die BIP-Rechnung nicht berücksichtigt, aber reinen großen Einfluss auf die Wirtschaft und das Leben der Menschen haben. Das bezieht sich auf bessere Automobile, Mobiltelefone mit viel mehr als der Telefondienst, Fortschritte der Medizin und vieles andere, das unser Leben verbessert hat.

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