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Die Wahlen in Deutschland erlebt

Von Marcus Christoph

Marcus
AT-Redakteur Marcus Christoph vor dem Brandenburger Tor. (Foto: privat)

Buenos Aires - 2021 war kein einfaches Jahr. Es war - wie schon das Vorjahr - geprägt von der Corona-Pandemie. Die Situation im Tageblatt war auch nicht einfach, da Redaktionsleiter Stefan Kuhn krankheitsbedingt mehrere Monate ausfiel. Dies verlangte allen Beteiligten Disziplin und den nötigen Durchhaltewillen ab. Gleichwohl gelang es, unter den schwierigen Bedingungen erstmals seit 2019 wieder eine Sondernummer zum Gründungstag des Tageblatts zu erstellen. Wie schon im Vorjahr blieb Homeoffice der bestimmende Arbeitsmodus.

Politisch das wichtigste Ereignis war für mich die Bundestagswahl in Deutschland. Dies lag auch daran, dass ich den diesjährigen Urnengang nicht wie die drei vorangegangenen von Argentinien aus verfolgt, sondern ihn direkt vor Ort erlebt habe.

Erstes sichtbares Zeichen des Wahlkampfes waren die zahlreichen Plakate, die ab Mitte des deutschen Sommers die Straßen und Plätze des Landes prägten. Diese fielen in verschiedenen Gegenden mitunter unterschiedlich aus und ließen Rückschlüsse auf die politische Stimmung in den jeweiligen Regionen zu. Ich erinnere mich an die Autofahrt Ende August in Sachsen von Dresden nach Hoyerswerda. In den Orten, durch die mich die Landstraße führte, waren viel mehr AfD-Plakate zu sehen, als ich es etwa in meiner norddeutschen Heimatregion gewohnt bin. Auch die rechtsextreme NPD warb in Sachsen deutlich sichtbar um Wählerstimmen.

Dass Ost und West in puncto Wahlverhalten unterschiedlich ticken, konnte ich auch spüren, als ich durch die Rhön reiste, wo einst der Eiserne Vorhang Deutschland brutal spaltete. Auf der thüringischen Seite, in dem Ort Frankenheim beispielsweise, waren Plakate der Linken, der AfD sowie des CDU-Rechtsaußens Hans-Georg Maaßen vorherrschend. Als ich dann ins nur wenige Kilometer entfernte bayerische Fladungen kam, lächelte mir vor allem Digitalstaatsministerin Dorothee Bär von der CSU auf den Wahlplakaten entgegen.

In Berlin wiederum sah ich auch viel Werbung von den Linksaußen der MLPD und vereinzelt auch der DKP.

Scholz
„Kanzler für Deutschland“ - SPD-Wahlwerbung in Berlin. (Foto: mc)

In ganz Deutschland waren die Köpfe der drei Kanzlerkandidat(innen) zu sehen. Olaf Scholz für die SPD, Armin Laschet als Bewerber der Unionschristen sowie Annalena Baerbock, deren Partei, die Grünen, erstmals offiziell das Kanzleramt anstrebte.

Scholz, bislang Finanzminister und Vizekanzler unter Angela Merkel, kam auf den Plakaten betont staatsmännisch daher. Der erste Teil der Wahlkampagne war von dem Slogan „Scholz packt das an“ geprägt - jeweils in Bezug auf verschiedene politische Versprechen wie beispielsweise der Anhebung des Mindestlohns.

Auf der Zielgeraden machten die Sozialdemokraten dann Anleihe bei Helmut Kohls Wahlkampf 1990, der sich im Einheitsjahr den Wählern als „Kanzler für Deutschland“ anpries. Der Pfälzer setzte sich damals gegen seinen sozialdemokratischen Herausforderer Oskar Lafontaine durch, der bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen der Nachkriegszeit für ein „modernes Europa“ geworben hatte.

Diesmal machten die Sozialdemokraten vieles richtig. Unter der Regie des damaligen Generalsekretärs Lars Klingbeil organisierten sie einen geschlossenen Wahlkampf. Reizfiguren wie Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert oder die Parteilinke Saskia Esken an der Parteispitze hielten sich zurück. Scholz war mit seiner gemäßigten politischen Haltung und seiner ruhigen, sachlichen Art auch viele Wähler der politischen Mitte wählbar.

Am Wahltag, dem 26. September, machte vor allem Berlin von sich reden. In der deutschen Hauptstadt fanden neben der Bundestagswahl auch die Wahlen zum Abgeordnetenhaus sowie zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen statt. Hinzu kam das Volksbegehren der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Um die organisatorische Herausforderung noch zu steigern, wurde mit der Terminierung des Berlin-Marathons auf eben diesen Multi-Wahltag ein weiterer Schwierigkeitsgrad eingebaut mit der Folge, dass zahlreiche Straßen im Stadtzentrum stundenlang gesperrt waren.

DKP
DKP-Plakat nahe dem Berliner Ostbahnhof. (Foto: mc)

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) bilanzierte: 5.000 Stimmzettel nicht ausgegeben, 1.600 ungültige Stimmen, 73 Wahllokale vorübergehend geschlossen, drei Abbrüche. In vielen Wahllokalen wurde noch bis weit nach 18 Uhr gewählt. Denn wer bei Wahlschluss noch in der Schlange steht, darf noch wählen. Das letzte Wahllokal schloss so erst um 20:56 Uhr seine Türen.

Ansonsten blieb es auf den Straßen Berlins am Wahlabend ruhig. Als um 18 Uhr die ersten Prognosen im Fernsehen verkündet wurden, war jedenfalls im Berliner Tiergarten keine einzige Emotion zu vernehmen. Die Wahlpartys beschränkten sich auf die Zentralen der Parteien. Kein Vergleich etwa zu dem riesigen Straßenfest, das 2019 auf den Straßen rund um das Wahlkampfquartier der siegreichen Allianz „Frente de Todos“ im Buenos-Aires-Stadtteil Chacarita stattfand.

Das hängt sicher damit zusammen, dass man in Deutschland am Wahlabend oftmals noch nicht sofort weiß, welche Koalitionen gebildet und welche Kanzlerin / welcher Kanzler am Ende gewählt wird. Doch zumindest hätten die Sozialdemokraten doch einen Grund gehabt, spontan offen zu feiern. Schließlich sind sie erstmals seit 19 Jahren wieder zur stärksten Partei im Bundestag geworden, nachdem sie lange als abgeschlagen galten.

Aber an dem Beispiel erkennt man die völlig unterschiedlichen politischen Kulturen. Sind in Argentinien große politische Versammlungen auf zentralen öffentlichen Plätzen, bei denen es leidenschaftlich zugeht, an der Tagesordnung, ist es in Deutschland doch ein paar Nummern nüchterner.

Dennoch war es mal wieder interessant, das erste Mal seit 2005 bei Bundestagswahlen wieder vor Ort in Deutschland zu sein. Die Zwischen-Wahlen in Argentinien in diesem Jahr habe ich übrigens knapp verpasst. Mein Flieger nach Argentinien kam erst am 15. November in Ezeiza an. Einen Tag nach dem Urnengang.



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