Von Juan E. Alemann
Die argentinische Wirtschaft erlebt einen Zusammenbruch wie nie zuvor, der viel bedeutender als allgemein auf der Welt ist. Zur Wirkung der Pandemie kommen eine schon vorher bestehende starke Rezession und die langandauernde Verhandlung über die Umschuldung hinzu. Und dann wirkt auch die Ratlosigkeit der Regierung negativ. Präsident Alberto Fernández hat die Verhinderung einer explosiven Ausbreitung des Covid-19 in den Vordergrund gestellt, und die wirtschaftliche Problematik vernachlässigt.
Der EMAE-Index des INDEC, der in einer Schätzung der wirtschaftlichen Tätigkeit auf Grund kurzfristig verfügbarer Daten besteht, lag im April 2020 um 26,4% unter dem gleichen Vorjahresmonat und (saisonbereinigt) um 17,5% unter März 2020. Es ist mit Abstand der größte jemals eingetretene Rückgang. Die ersten 4 Monate 2020 liegen somit um 11% unter dem Vorjahr. Im Einzelnen fanden im April folgende interannuelle Rückgänge statt: Bautätigkeit: -86,4%; Restaurants & Hotels: -85,6%; Industrie: -34,4%; Handel: -27,4%; Transport & Fernverbindungen: -26,1; Landwirtschaft: -10,3%; Erziehung: -10,6%; Strom, Gas und Wasser: -8,3%; Finanzen: -3,2%.
Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (laut INDEC) im ersten Quartal 2020 interannuell um 5,4% und gegenüber dem 4. Quartal 2019 um 4,8% zurückgegangen ist, rechnet der Internationale Währungsfonds für das ganze Jahr mit einem Minus von fast 10%. Doch eine Denkschrift, die von privaten Ökonomen verfasst wurde und in der New Yorker Finanzwelt verbreitet wurde, gelangt auf minus 14%. Und angesichts der April-Zahl des EMAE dürfte der Rückgang noch höher sein. Der angesehene Wirtschaftler Ricardo Arriazu sieht für das 2. Quartal 2020 einen interannuellen Rückgang von 18% vor.
Alle hoffen, dass nach Beendigung der Quarantäne eine spürbare Besserung eintritt. AF hat, wie bekannt wurde, von seinem Wirtschaftsminister Guzmán einen Plan für die Periode nach der Quarentäne gefordert. Doch man kann nicht bis dahin warten, umso mehr als der Präsident sich gleichzeitig für eine Verlängerung und Verschärfung der Quarantäne einsetzt, weil er nach wie vor eine geometrische Ansteckungswelle befürchtet, die die Kapazität der Hospitäler, um die schwer Infizierten zu behandeln, übersteigt. Man muss schon jetzt zu konkreten Maßnahmen greifen, um einen totalen Zusammenbruch zu verhindern, der dann die Erholung noch schwieriger macht, als sie ohnehin schon sein wird.
Bis es keinen wirksamen Impfstoff und/oder Medikamente zur Heilung gibt, die zumindest die Todesgefahr stark verringern, kann es somit laut Regierung keine Aufhebung der Quarantäne und ihrer flankierenden Maßnahmen geben. Das bedeutet, dass sich die Rezession weiter vertieft. Und das erfordert schon jetzt Maßnahmen, die über die Subventionen für Löhne u.a. Zwecke, sowie Kredite zu Nullzinssatz und zu 24% für bestimmte Fälle hinausgehen.
In dieser tiefen Krise entsteht auch ein soziales Problem von ungeahntem Ausmaß, das nicht passiv hingenommen werden kann. Die Arbeitslosigkeit, die das INDEC für das erste Quartal 2020 mit 10,4% angegeben hat, die in Wirklichkeit gut 12% betrug (weil die Arbeitslosen, die sich nicht um einen Arbeitsplatz bemühen, nicht als solche eingestuft werden, und weitere als unterbeschäftigt eingestuft werden, obwohl sie nichts zu tun haben) dürfte schon jetzt bei 20% liegen. Es besteht hier eine Grauzone, von denjenigen, die zunächst nur für eine bestimmte Zeit entlassen wurden (meistens mit einem geringeren Lohn), aber schließlich ganz entlassen werden müssen. Und viele Arbeitslose kommen auch aus den Reihen der selbstständig Tätigen, die ihre normale Arbeit nicht verrichten können. Die Zahl der Arbeitslosen, die das Statistische Amt im 1. Quartal mit 2,1 Mio. angibt, dürfte somit schon um die 4 Mio. Menschen liegen. Nur wenige davon beziehen die Arbeitslosensubvention, die in Ländern wie die Vereinigten Staaten und die der Europäischen Union fast alle umfasst. Außerdem haben die Menschen in den fortgeschrittenen Staaten Ersparnisse, mit denen sie über die Runden kommen. In den USA ist es normal, u$s 20.000 und auch viel mehr auf einem Bankkonto zu haben. In Argentinien leben die meisten Menschen von ihrem monatlichen Einkommen, ohne Reserven, so dass sie ohne dieses Geld nicht einmal sich und ihre Familie ernähren können. Viele überleben dank der Hilfe von Familienangehörigen und Freunden, und auch dank der sozialen Solidarität von Gemüsehändlern und Metzgern, die ihnen Ware schenken, oder billig und/oder auf Kredit verkaufen. Viele erhalten auch Lebensmittel im Rahmen der sozialen Programme, die die Regierung für diesen Zweck in Gang gesetzt haben, und Kinder erhalten in den Schulen oft ein Frühstück und eine Mahlzeit. Aber dabei verbleiben viele, die schließlich hungern. Die Arbeitslosensubvention muss ausgebaut werden, was jedoch die Staatskasse noch mehr belastet.
Angesichts dieser Lage ist viel von der Notwendigkeit eines Wirtschaftsprogrammes die Rede. Präsident Fernández hat in diesem Sinn auch schon mit seinem Wirtschaftsminister und auch mit Roberto Lavagna u.a. gesprochen. Doch dies geht am unmittelbaren Problem vorbei. Die Unternehmen machen sich Sorgen um das Weiterbestehen ihrer Firmen. Ob sie dann wieder normal tätig sein können, kommt an zweiter Stelle, und Wachstum bestenfalls an dritter. Man muss jetzt die tiefe Krise verwalten und verhindern, dass ein noch viel größer Schaden entsteht, als er ohnehin schon besteht.
Konkret geht es zunächst darum, eine Flut von Konkursen und definitiven Schließungen zu verhindern, so dass die Erholung nicht mit einem Hindernis beginnt, das die Unternehmen oft nicht überwinden können. In diesem Sinn muss das Konkursgesetz in bestimmten Aspekten geändert werden, zumindest für eine bestimmte Zeit. Die Schuldner müssen stärker geschützt werden. Die AFIP hat zunächst die Pfändungen, die fällig sind, aufgehoben, jetzt bis Ende Juli. Doch bis dahin ist das Problem nicht gelöst. Pfändungen von Girokonten müssen allgemein und definit verboten werden, und was die AFIP betrifft, so muss bestimmt werden, dass sie nur das Anlagevermögen pfänden kann, um zu verhindern, dass der Steuerschuldner alles verkauft und verschwindet. Das alles muss definitiv sein. Denn das bestehende System, bei dem alles gepfändet wird, behindert die normale Tätigkeit eines Unternehmens, und somit auch seine Zahlungsfähigkeit, und zwingt es oft, auf Schwarzwirtschaft überzugehen. Dieses Problem taucht jetzt besonders akut auf.
Außerdem muss es Kreditgarantien der ZB (von etwa 70% des Betrages) bei bestimmten Bankkrediten geben, bei denen die ZB auch den Zinssatz beschränkt. Denn die Banken können sonst Unternehmen in Krisensituationen keinen Kredit erteilen, weil die Banknormen und auch die eigene Risikobewertung es verhindern. Die Kredite, die durch die Garantie erleichtert werden, müssen sich besonders auf Finanzierung des Arbeitskapitals beziehen. Ohne dies können viele Unternehmen ihre normale Tätigkeit kurzfristig nicht wieder aufnehmen.
Ebenfalls würde eine volle Legalisierung des bimonetären Systems, wie wir sie an dieser Stelle wiederholt ausführlich erklärt haben, eine wesentliche Erleichterung darstellen. Einmal müssen auch Dollarkredite für Finanzierung lokaler Geschäfte erlaubt werden, und dann muss die Möglichkeit geschaffen werden, Dollarguthaben einzusetzen, ohne dabei steuerliche Schwierigkeiten zu haben. Denn viele Menschen und Unternehmen halten ihre Liquidität (die sie jetzt einsetzen müssen, um zu überleben) nicht in Pesos, sondern in Dollar.
Ferner sollte die Gelegenheit beim Schopf gefasst werden, um Reformen bei der Arbeitsgesetzgebung durchzuführen. Es ist in diesem Sinn schon positiv, dass ein Gesetz über Fernarbeit unmittelbar in Kraft treten wird, nachdem die Quarantäne dieses Thema plötzlich in den Vordergrund gestellt hat. Aber das genügt bei weitem nicht. Die Entlassungsentschädigung muss erst ab zwei Jahren gelten und nicht ab drei Monaten wie jetzt, damit potentiell instabile Arbeitsplätze besetzt werden können. In Krisenzeiten, und besonders wenn die ersten Erholungszeichen bemerkbar sind, entstehen viele Arbeitsplätze, die wegen der Entlassungsentschädigung nicht besetzt werden, weil die Unternehmer befürchten, dass es sich um eine Eintagsfliege handelt. Die Soziallasten müssen für das erste Jahr gesenkt werden, und bei Jugendlichen noch mehr. Und dann sollte es während mindestens einem ganzen Jahr keine Lohnverhandlungen geben. Argentinien steht jetzt in einer Lage, in der es darum geht, kurzfristig bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten für Millionen Menschen zu schaffen. Dies hat absolute Priorität vor Lohnerhöhungen und Erhaltung des Reallohnes.
Es kann bestimmt noch mehr getan werden, um den Zusammenbruch und seine Auswirkungen zu mildern. Man muss zu diesem Zweck die konkreten Probleme vor Augen haben, die sich jetzt stellen, und Phantasien bei Seite lassen. Der spanische Kulturphilosoph José Ortega y Gasset bemerkte bei einem Argentinien-Besuch in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts, dass die Argentinier stets um den heißen Brei herum redeten, und gab ihnen einen guten Rat: “Argentinier, zu den Sachen! (Argentinos, ¡a las cosas!)
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