Von Juan E. Alemann
Präsident Alberto Fernández hat seine Hoffnung geäußert, dass die Gewerkschaften sich bei den Lohnverhandlungen, die sich zum Teil schon in Gang befinden, maßvoll verhalten. Dabei erwartet er Lohnerhöhungen in diesem Jahr von etwa 30%, die bestenfalls die Inflation von 2020 ausgleichen, aber nicht den Kaufkraftverlust der Vorjahre, den die Gewerkschaften auf allgemein um die 20% angeben. Allerdings ist es so, dass der Verlust in den einzelnen Branchen und Unternehmen sehr unterschiedlich ist und in einigen Fällen nicht besteht. In bestimmten Arbeitsabkommen wurde schon in den letzten Jahren eine Inflationsklausel eingefügt (auf Englisch “trigger clause”, auf Spanisch “cláusula gatillo”), bei der die Löhne dann automatisch im Ausmaß der Zunahme des Indices der Konsumentenpreise erhöht werden. Auch das will A. Fernández jetzt abschaffen. In der Tat ist es so, dass diese Klausel entweder allgemein verboten wird, oder sie wird nach und nach in sämtliche Arbeitsabkommen aufgenommen. Und das würde die Inflation zunächst beschleunigen und dann verewigen.
Gewiss stehen gegenwärtig viele Unternehmen, vor allem kleine und mittlere, aber auch große, unter Druck, mit hohem Umsatzrückgang und auch Bilanzverlusten, und sind nicht in der Lage die Löhne nominell zu erhöhen. Auch rein finanziell geht die Rechnung nicht auf, weil den meisten Unternehmen ohnehin schon Arbeitskapital fehlt, und der Bankkredit real stark geschrumpft ist, ganz besonders im letzten Jahr. Das wissen die Gewerkschafter, und deshalb sind viele von ihnen bereit, ihre Forderungen zu beschränken. Aber sie stehen unter Druck, weil einige Gewerkschaften hohe Zulagen durchsetzen, obwohl sie ohnehin schon erreicht haben, dass die Löhne nominell und oft auch real in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen sind.
Das betrifft besonders die Speiseölindustrie und die Bankangestellten, bei denen sich auch dieses Mal die Verhandlungen stillschweigend in Gang befinden. Im ersten Fall kann die Industrie dies verkraften, weil sie von der betonten Abwertung profitiert hat, die seit Mitte 2018 stattgefunden hat. Im zweiten Fall gab es bei den Banken einen hohen Effizienzfortschritt als Folge der Einführung der Computertechnologie und des Internets, die Arbeit spart und somit höhere Gehälter erlaubt. Bei Zahlungen, die über Internet erfolgen, spart die Bank viel Arbeit der Kassierer und der Verwaltungsbeamten, wobei auch der Clearing, mit dem umständlichen Austausch von Schecks, entfällt. Auch Fristdepositen werden über Internet vollzogen, ohne einen Bankangestellten zu belästigen. Pensionen werden auf ein Konto eingezahlt, wobei der Lebensnachweis des Rentners durch einen Apparat bestätigt wird, der den Fingerabdruck registriert, der auch die Quittung ausstellt. Aber bei anderen Branchen sind die Produktivitäts- und Effizienzfortschritte geringer, oder sie bestehen bei geringerer Produktion überhaupt nicht, wobei dann die Löhne sogar ein höheres Gewicht bezogen auf die Gesamtkosten haben.
Die Gewerkschaften haben immer schon die Strategie verfolgt, einen Durchbruch bei bestimmten Branchen und Unternehmen zu erreichen, und dies dann zu verallgemeinern. Und auch jetzt dürfte es im Grunde nicht viel anders sein, wenn sich die Regierung des Problems nicht bewusst ist und entsprechend handelt. Die Gewerkschafter haben auch ein klares Bewusstsein über die Stärke und die Schwäche einer Regierung ihnen gegenüber. Als erstes muss A. Fernández somit jetzt Signale der Stärke geben, was jedoch seiner grundsätzlichen Haltung widerspricht, stets Kompromisse zu suchen und Konflikte zu vermeiden.
Die Regierung muss jetzt auf alle Fälle verhindern, dass es zu Lohnerhöhungen kommt, die die Inflation anheizen. Bei Zulagen von 40%, 50% und mehr, weiß jeder Unternehmer, was los ist, und bemüht sich, diese Erhöhungen auf Preise abzuwälzen, wenn möglich schon vor der effektiven Zahlung der Zulage. Als erstes ist eine Begrenzung der Lohnerhöhungen notwendig, sagen wir auf 30%. Das ist legal schwierig, sollte jedoch zumindest per Notstandsdekret möglich sein. Dabei muss verhindert werden, dass dieses Maximum dann als Minimum interpretiert wird, und alle Gewerkschaften dann eine Erhöhung von 30% durchsetzen und sich auf eine zweite Runde mit einem weiteren Zusatz vorbereiten.
Die Regierung sollte sich besinnen, was für Instrumente sie in der Hand hat, um Lohnerhöhungen zu beschränken. Als erstes muss verfügt werden, dass bei Lohnabkommen, die mit Zulagen abschließen, die über der Obergrenze liegen, die Allgemeingültigkeit (“homologación”) verweigert wird. Das bedeutet, dass Unternehmen, die nicht dem Verband angehören, der den Arbeitsvertrag unterzeichnet hat, nicht durch das Abkommen gebunden sind. In der Praxis versuchen die Gewerkschafter dann, die betreffenden Unternehmer unter Druck zu setzen, auch mit Gewalt. Bei illegalen Streiks und Gewalteinsatz muss die Regierung hart vorgehen, mit der Polizei und auch mit Festnahme von Gewerkschaftern. Frage: Kann man so etwas von A. Fernández erwarten?
Die Lösung des Problems, das wir hier aufgeworfen haben, erfordert weitere Maßnahmen, die politisch schwierig sind. Einmal muss die sogenannte “Ultraaktivität” der Arbeitsabkommen abgeschafft werden, die darin besteht, dass ein Abkommen auch nach Ablauf weiter gilt, bis es nicht von einem anderen ersetzt wird. Normalerweise laufen Verträge zum Zeitpunkt ab, bis zu dem sie abgeschlossen wurden. Auch bei Arbeitsverträgen sollte es so sein. Sonst ist es in der Praxis so, dass Klauseln, die produktivitätshemmend sind oder sich neuen Produktionsumständen nicht anpassen, nicht abgeschafft werden können. Die Arbeitsabkommen müssen gründlich durchkämmt werden.
Als zweites muss es einen Vertreter des Wirtschaftsministeriums (oder des Produktionsministeriums oder des Kabinettschefs) bei den Lohnverhandlungen geben, der sich Zulagen widersetzt, die entweder auf die Preise abgewälzt werden oder Subventionen der Regierung voraussetzen. Es geht nicht, dass sich Gewerkschaften und Unternehmer einigen, und dann der Konsument die Zeche bezahlt. Wie weit dieser Vertreter durch Notstandsdekret geschaffen werden kann, sei dahingestellt. Aber die Regierung muss es versuchen. Denn ein Gesetz, das das bestehende Gesetz über “freie” Lohnverhandlung ändert, kommt im Kongress bestimmt nicht durch. Der offizielle Vertreter muss auch für Lohndifferenzierung und Bindung von Lohnzulagen an Produktivitätsfortschritte eintreten. Die Gewerkschaften sind prinzipiell für eine geringe Lohndifferenzierung eingestellt, und ignorieren das Produktivitätsprinzip.
Die Regierung muss dann noch indirekte Druckmittel verwenden, wie es schon unter vergangenen Regierungen faktisch geschehen ist. Sie kann die Gewerkschafter bei ihren Sozialwerken unter Druck setzen, einmal wenn die Finanzen derselben nicht in Ordnung sind, und dann beim Sonderzuschuss für teure Krankheiten, der ohnehin ziemlich willkürlich verteilt wird. Gewerkschafter, die bei der Wirtschaftspolitik der Regierung mitmachen, müssen besser behandelt werden als die, die der Regierung Schwierigkeiten bereiten.
Schließlich sei noch erwähnt, dass das Ziel der Vollbeschäftigung Vorrang vor dem der Aufholung des Reallohnverlustes hat. Präsident Fernández hat zwar, als er noch Kandidat war, ständig wiederholt, dass seine Arbeit als Präsident darin bestehen werde, dafür zu sorgen, dass auch alle anderen eine Arbeit hätten. Doch als Präsident scheint er das Thema vergessen zu haben. Die Erwartung, dass die wirtschaftliche Erholung, mit der er rechnet, auch genügend Arbeitsplätze schaffen wird, ist illusorisch. Zunächst wird das bestehende Personal besser beschäftigt, und dann wird versucht, dank neuer Technologie und anderen Maßnahmen, mit weniger Personal auszukommen. Die Vollbeschäftigung kann kurzfristig nur erreicht werden, wenn unstabile oder potenziell unstabile Arbeitsplätze besetzt werden. Das ist das Geheimnis der Vollbeschäftigung in den Vereinigten Staaten, die von einer starken Rotation der Beschäftigten begleitet wird. Die Entlassungsentschädigung muss erst nach zwei Jahren in Kraft treten, statt drei Monaten, wie jetzt. Und wenn man einen Schritt weitergehen will, muss man die Soziallasten für neu eingestellte Arbeitnehmer, zumindest bei Jugendlichen, für die ersten zwei Jahre stark verringern. Es wäre für die Regierung politisch einfacher, die Lohndiskussion ohne inflationäre Folgen zu durchstehen, wenn das Beschäftigungsproblem in den Vordergrund gestellt würde, das ohnehin, rein objektiv betrachtet, erste Priorität hat.
All das, was wir hier vorbringen, klingt stark nach Wunschdenken und wird allgemein als wirklichkeitsfremd eingestuft. Doch wenn man es nicht versucht, erwartet diese Regierung, nach der Pause von 180 Tagen, die faktisch eingeführt wurde, eine explosive Lage.
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