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Die „Stunde Eins“

Drei Jahre nach Kriegsende bereisten die Tageblatt-Journalisten Ernesto und Roberto Alemann die vier Besatzungszonen Deutschlands

Berliner Kinder
Berliner Kinder begrüßen ein ankommendes Frachtflugzeug. (Foto: pd)

Vor 75 Jahren ging der 2. Weltkrieg zu Ende. Deutschland, dessen nationalsozialistisches Regime diesen Krieg mit mehr als 60 Millionen Todesopfern begonnen hatte, lag am Boden. Der Krieg hatte 5,3 Millionen deutsche Soldaten und 1,2 Millionen Zivilisten das Leben gekostet. Das Gros der Städte war massiv zerstört. Millionen an Flüchtlingen kamen in die Besatzungszonen. Es fehlte an Wohnraum und Lebensmitteln. Als „Stunde Null“ werden die ersten Monate und Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands bezeichnet.

Als Ernesto Alemann und sein damals 25-jähriger Sohn Roberto im Sommer 1948 die Besatzungszonen der vier Siegermächte besuchten, hatte bereits die Stunde Eins der deutschen Nachkriegsgeschichte begonnen. Die Währungsreform vom 20. Juni 1948 in den drei Westzonen leitete einen wirtschaftlichen Aufschwung ein, die Versorgungslage besserte sich, ein Großteil der Trümmer war beseitigt. Viele Menschen wollten bereits den Krieg vergessen und vor allem die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen verdrängen.

Die beiden argentinischen Journalisten beobachteten die Verhältnisse in Deutschland aufmerksam und lieferten präzise Momentaufnahmen. Sie sprachen mit wichtigen Nachkriegspolitikern wie dem Hamburger Bürgermeister Max Brauer, seinem Bremer Amtskollegen Wilhelm Kaisen, dem späteren Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Reinhold Maier und Carlo Schmid, einem der wichtigsten Verfassungsväter der späteren Bundesrepublik Deutschlands.

Wichtig für die Autoren waren auch die Gespräche mit den Menschen auf der Straße. Sie nehmen einen breiten Raum in dem Buch ein. Vor allem Ernesto Alemann, der mit dem Argentinischen Tageblatt den Nationalsozialismus schon vor der „Machtergreifung“ erbittert bekämpft hatte, war es wichtig, zu verstehen, warum die Deutschem diesem Regime bis zum bitteren Ende folgten.

„Deutschland heute - Reise durch vier Zonen“ ist ein historisches Buch. Einige Einschätzungen und manchmal auch die Sprache wirken sieben Jahrzehnte später nicht mehr zeitgemäß. Es ist aber auch ein Geschichtsbuch, aus dem man viel über das besetzte Land im Jahr 1948 erfahren und lernen kann. Deshalb haben wir uns 75 Jahre nach Kriegsende zu einer Neuveröffentlichung in E-Book-Format entschlossen. Sie soll auch an den Mitautoren, den langjährigen Herausgeber und Direktor des Argentinischen Tageblatts und früheren Wirtschaftsminister Argentiniens Dr. Roberto T. Alemann erinnern. Er ist am 27. März 2020 verstorben. Von ihm stammt der hier veröffentlichte Auszug. Er beschreibt einen Flug in einem „Rosinenbomber“ der Berliner Luftbrücke.


Mehlflug nach Berlin

Flugplatz Tempelhof
Auf dem Flugplatz Tempelhof wird eines der Transportflugzeuge unmittelbar nach der Ankunft entladen und kehrt eine Viertelstunde später nach Frankfurt zurück. Diese Luftbrücke ist eine ungeheure organisatorische Leistung der Angelsachsen.

Über Frankfurt brummen und donnern je nach ihrer Flughöhe die schweren Transportmaschinen der US Air Force Tag und Nacht. Nur hin und wieder sieht man sie, wenn der ständig bewölkte Himmel die Sicht frei gibt, aber sie sind ununterbrochen zu hören. Sie schaffen Kohle, Benzin, Mehl und andere Lebensmittel, notwendige Waren aller Art nach Berlin, steigen wieder leer auf, fliegen nach Frankfurt zurück und beginnen ihren Rundflug von neuem. Tag um Tag, Woche um Woche, an Sonntagen und Feierabenden ist die Luftbrücke in Betrieb, die gewaltigste Lufttransport-Organisation, die menschlicher Geist je erschuf.

Im Auto nach Berlin zu reisen und im Vorbeifahren auch nur einen flüchtigen Blick hinter den Eisernen Vorhang zu werfen, hatten uns die Russen nicht erlaubt. Man hätte vielleicht einmal anhalten und an die Frage nach dem Wege eine Unterhaltung über die Verhältnisse in der Ostzone knüpfen können. Wir waren auf die Luftbrücke angewiesen. Zwei Möglichkeiten boten sich uns: entweder das reguläre Passagierflugzeug zu benutzen oder von der Air Force in einem Frachtflugzeug mitgenommen zu werden. Die Frachtreise lockte uns mehr. Es lag etwas Abenteuerliches darin, einmal mit eigenen Augen zu sehen, wie die Versorgung Berlins sich in Einzeloperationen auflöst und wie sie funktioniert.

Es war ein Privileg, das uns als Presseleuten zugestanden wurde. Wir reisten als Gäste der Air Force und mussten uns nur schriftlich verpflichten, im Schadensfalle nicht auch noch Ansprüche gegen die Vereinigten Staaten zu erheben. Die Unterschrift gaben wir gern. Ohnehin hatte eine britische Versicherungsgesellschaft es abgelehnt, eine Unfallpolice für die Reise durch Deutschland auszustellen. Das Risiko war der Londoner Zentrale zu groß erschienen. Unversichert wie wir waren, konnte uns nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit kaum etwas geschehen. Die Formalitäten für die Reise waren rasch erledigt. Spät abends waren wir aus Hannover in Frankfurt eingetroffen, am folgenden Vormittag brachte uns eines der urältesten deutschen Automobile zum Flugplatz.

Dort übernahm uns ein junger Offizier, der ziemlich fließend Spanisch sprach, mit gewinnender Liebenswürdigkeit, setzte sich an die Schreibmaschine, füllte einige Formulare aus, vermerkte darin Namen, Wohnort, Passnummer und was sonst noch heutzutage für notwendig gehalten wird, und begleitete uns persönlich zu unserem Piloten. In jeder Baracke des Flugplatzes haben die einzelnen „Squadrons“ kleine Abteile. Wir wurden dem Flugzeugführer vorgestellt: Captain Soundso - how do you do? Ein kurzes Gespräch zwischen einem Militärbeamten, der die Flüge auf dem Papier organisiert, und unserem Captain ergab, dass er bereit war, ausnahmsweise auch zwei Zivilisten mitzunehmen. Gewöhnlich darf nur einer mitfliegen. Es ging alles sehr unmilitärisch zu. Eher hatte man das Gefühl, die Beamten und Offiziere leisteten sich aus alter Wertschätzung, oder weil sie zusammen auf derselben Schulbank gesessen hatten oder aus anderen Gründen gegenseitige Freundschaftsdienste. Nichts von Paragraphenreiterei oder ähnlichem bürokratischen Formelkram. Die Atmosphäre im Frankfurter Flugplatzbüro, das eine gewaltige organisatorische Aufgabe zu lösen hat, ist ausgesprochen zivil, offen und einfach.

Nach einem kurzen Imbiss fuhren wir mit unseren Piloten auf einem Jeep-Lastwagen zum Flugzeug. Zwei Alternativen setzten wir uns aus: Kohlenstaub einzuatmen oder Mehlluft zu riechen, geschwärzt oder gebleicht zu werden. Wir hatten Glück. Kurz vor unserem waren vier mit Kohlensäcken beladene Flugzeuge abgeflogen: jetzt kam eine Serie Mehlsäcke an die Reihe. Unsere viermotorige Douglas, eigentlich ein normales Passagierflugzeug ohne Sitzplätze und Innenausstattung, hatte seine 10 Tonnen Mehlsäcke schon aufgenommen und wartete flugbereit. Unser Captain, noch ein Pilot, ein Adjutant und ein Funker, alles Offiziere oder Unteroffiziere bildeten die Besatzung. Die vier jungen Leute benahmen sich gar nicht militärisch, oder wenigstens zeichneten sie sich nicht durch das aus, was man sich unter militärischem Verhalten vorstellt. Während der ganzen Fahrt haben wir nie einen Befehlston bemerken können.

Anstelle der im Passagierverkehr üblichen fahrbaren, bequemen Treppe, stand eine einfache Eisenleiter, die während des Fluges mitgenommen und bei der Landung wieder herausgestellt wird. Wir kletterten hinauf und fanden die Mehlsäcke im vorderen Teil des Rumpfes, auf der linken Seite mit Tauen befestigt. Merkwürdigerweise ist die seitliche Verschiebung der Fracht unwesentlich, nur die Längsverteilung macht „a tremendous difference“, einen gewaltigen Unterschied aus. Unser Gepäck wurde unbefestigt auf den Boden gelegt. Der Captain unterrichtete uns über die Handhabung des Fallschirmes. Je ein Riemen um Schultern und Oberschenkel, im Ganzen vier, und wir kamen uns vor wie Mäuse in der Falle, eingeschnürt und ungemütlich. „Sie springen, zählen bis drei und ziehen hier“, sagte der Captain, indem er auf einen Griff an der linken Brustseite zeigte. „Und dann“, fügte er hinzu, und deutete mit einer Handbewegung auf den Kopf, „vergessen Sie nicht, den Hut festzuhalten!“

Die 10 Tonnen Mehl nahmen in 170 Säcken kaum ein Fünftel des etwa siebzehn Meter langen, zweieinhalb Meter breiten und über zwei Meter hohen Raumes ein. Von der glasbedeckten Kabine der Flieger aus konnten wir Abfahrt, Flug und Landung beobachten, wie man es normalerweise, vom Sitzplatz aus, nicht kann. Zwei Pritschen standen uns auch zur Verfügung. Wir verbrachten den Flug teilweise liegend, eine Bequemlichkeit, die man im gewöhnlichen Passagierflugzeug nicht genießt. Kaum war das Flugzeug gestartet, zündete ein Pilot sich eine Zigarette an, der andere blätterte in einer Zeitung, der Adjutant manipulierte an der Schalttafel und der Funker las mit den Hörern am Ohr in einem Buche. Ab und zu wechselten sie ein Wort miteinander, im Übrigen taten sie, als ob sie irgendeine administrative Arbeit zu leisten hatten.

Unsere Flugroute führte uns zunächst von Frankfurt etwas südöstlich über Darmstadt, dann nördlich über Aschaffenburg direkt nach Fulda, und von dort in gerader Linie über Langensalza, an Dessau vorbei, nach Berlin. Der kleine Umweg am Anfang verfolgt den Zweck, zurückkehrenden Flugzeugen auszuweichen. Diese Apparate fliegen über einen anderen Luftkorridor, von Berlin nach Braunschweig direkt, und von dort nach Frankfurt. Der dritte Luftkorridor wird von der britischen Royal Air Force in direkter Linie Berlin-Hamburg beflogen. Wir konnten die Route auf einer Karte verfolgen, da wir in den anderthalb Stunden, die der Flug von Frankfurt bis Berlin in Anspruch nimmt, nur zeitweilig aus einem mehr oder weniger dichten Wolkenmeer herauskamen. Ab und zu zeigte sich durch Wolkenlücken ein Fluss, eine Stadt oder ein Wald. 5000 Fuß über dem Erdboden sicherten den Piloten vor Schwierigkeiten mit der russischen Besatzungsbehörde, die in dieser Hinsicht manchmal überempfindlich ist und genau darauf sieht, dass die Fluggrenzen eingehalten werden. Die 350 km Stundengeschwindigkeit, mit denen wir flogen, stellten sich nachher als zu schnell heraus, denn wir mussten eine geschlagene halbe Stunde über Berlin herumkreisen und warten, bis drei Flugzeuge, die vor uns abgeflogen waren, auf dem Tempelhofer Flugplatz gelandet waren. Der Nebel hatte sich verflüchtigt, da wir bedeutend niedriger flogen, dafür regnete es. Wir konnten Berlin von oben betrachten, Ruinen und ganze Viertel dachloser Häuser sehen. Der Großstadt Berlin fehlt Leben: in den Nebenstraßen verkehrt kaum ein Vehikel. Der Benzinmangel wirkt als Folge der Blockade empfindlich auf die Regsamkeit des Verkehrs, der Leben und Bewegung in die Großstadt bringt, im schroffen Gegensatz zu anderen westdeutschen Städten, wo je nach Zonen, amerikanische, englische oder deutsche Privatautomobile und zahlreiche Lastwagen dem an friedensmäßige Verhältnisse gewohnten Auge bekannte Bilder ins Gedächtnis rufen.

Rosinenbombers
Der Frachtraum eines „Rosinenbombers“. (Foto: Oxfordian)

Die Landung vollzog sich so sanft, dass sie kaum zu merken war. Wir fuhren langsam auf einer der breiten, zur Zeit, um sie gegen allzu starke Abnützung zu hüten, mit Drahtgeflecht überzogenen Pisten in Richtung auf das Hauptgebäude. Ein kleines gelbes Automobil fuhr uns entgegen, kehrte einige fünfzig Meter vor uns um und zeigte ein Schild mit der Inschrift: „Follow me!“ Der Wagen führte uns bis kurz vor ein eben gelandetes Flugzeug, hielt, wartete bis wir ebenfalls stehen geblieben waren und holte das nächste Flugzeug: ein kleiner, den Bedingungen des Flugwesens angepasster Lotse. Wir stiegen aus, verabschiedeten uns vom Captain, entfernten uns einige Schritte von der Maschine und beobachteten die Entladung. Kaum war die Türe des Laderaumes geöffnet, näherte sich schon ein mit zwölf Arbeitern beladener Lastwagen. Rückwärts steuerte er auf die offene Tür zu, die Leute sprangen in den Raum, und sofort begann die Löschung der Fracht, die vorschriftsmäßig nicht mehr als fünfzehn Minuten in Anspruch nimmt. Währenddessen fährt eine Kantine zum Flugzeug, die Mannschaft kann sich stärken, um sofort wieder den Rückflug anzutreten und in Frankfurt erneut zu laden. Gewöhnlich bewältigt eine Mannschaft zwei Flüge täglich, bringt also zwanzig Tonnen Fracht nach Berlin. Bei Mehlladungen entspricht das einer Tagesration für fünfzigtausend Einwohner.

Das vor uns angekommene Flugzeug war schon fast fertig entladen. Weiter vorne warteten flugbereit zwei weitere, deren Fracht bereits weggefahren war. Einige Minuten nach uns landete die nächste Maschine. Von dem Dutzend Lastwagen mit Arbeitern, die am Tempelhofer Flugplatz in einer Reihe ihrer Aufgabe harrten, löste sich sofort einer und steuerte auf den Apparat zu. Ein junger amerikanischer Transportoffizier gesellte sich zu uns, und erläuterte uns einige Einzelheiten. „Es ist die gewaltigste Flugtransportorganisation, die ich je gesehen habe“, meinte er, und hatte Recht. 4000 Tonnen täglich, alle vier Minuten ein Flugzeug. Wahrhaftig kein Kinderspiel. Der Prozess wickelte sich mathematisch genau auf die Minute ab. Jede verlorene Minute bedeutet Frachtverlust, der sich auf die kargen Rationen der Berliner schwer auswirken kann.

Über Berlin brummen die schweren viermotorigen Flugzeuge von morgens bis abends und die ganze Nacht hindurch. Ein Geräusch verdichtet sich rasch zum Lärm, wird zum Brüllen, klingt ebenso schnell ab, hört auf. Ihm folgt das nächste. Es ist der letzte Ton, den man vor dem Einschlafen vernimmt, der erste, der als Weckruf in die Ohren klingt. Eben noch hat ein Radio Jazzmusik laut in die Nachbarschaft getrieben. Abrupt schweigt es. Stromsperre. Elf Uhr. Und wieder kommt die nächste Maschine.

Aber den Berlinern, die diese Flugzeuge „Rosinenbomber“ nennen, ist der Lärm Musik. Er bedeutet ihnen Nahrung, Leben, Freiheit. „Ist die Mehrheit der Bevölkerung“, fragten wir den Jeepfahrer, der uns in unser Quartier brachte, „in den Westsektoren gegen die Russen eingestellt?“ -“Im Westen?“ fragte er erstaunt: „Niemand will in Großberlin und in der Ostzone etwas von ihnen wissen.“

Roberto T. Alemann

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