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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Die soziale Katastrophe

Von Juan E. Alemann

Daniel Arroyo
Sozialminister Daniel Arroyo.

Argentinien erlebt gegenwärtig eine tiefe soziale Krise, die ständig zunimmt, und von der Regierung nicht in ihrer vollen Dimension begriffen wird. Dabei muss man anerkennen, dass diese Regierung sich intensiv um die Ernährung der Bevölkerung kümmert, und mit dem Programm AlimentAr und der direkten Nahrungsmittelzufuhr an die zahlreichen gemeinnützigen Essanstalten und Schulen sehr viel erreicht hat. Aber es fehlt noch viel, und es wäre ein Fehler, wenn sich die Regierung mit dem schon Erreichten zufrieden gibt. Ohne diese Programme würden tausende von Menschen hungern oder sich knapp und schlecht ernähren. Sozialminister Daniel Arroyo hat gute Arbeit geleistet. Doch die soziale Krise geht weit über dies hinaus.

Die Arbeitslosigkeit wurde im 2. Quartal vom INDEC mit 13,1% der aktiven Bevölkerung angegeben. Doch wenn man die Verringerung der aktiven Bevölkerung hinzuzählt, gelangt man auf 21,8%. Es ist klar, dass viele neue Arbeitslose sich während der Quarantäne nicht um einen Arbeitsplatz bemühen, wobei die Unternehmen auch keine neuen Arbeitnehmer aufnehmen. Aber das bedeutet nicht, dass sie zu denjenigen gehörten, die normal keine bezahlte Arbeit haben, wie Hausfrauen, Jugendliche, die Schulen und Universitäten besuchen, Rentner, und Personen, die von ihrem Vermögen leben. Sie sind ohne jeden Zweifel Arbeitslose.

Hinzu kommt noch, dass sich die Lage im 3. Quartal verschlechtert hat, und auch, dass man viele sogenannte Unterbeschäftigte hinzuzählen muss, die kaum etwas zu tun haben. Wobei ohnehin schon vor der Pandemie die aktive Bevölkerung (diejenigen, die eine bezahlte Arbeit haben, plus diejenigen, die sich um eine bemühen) mit 47% der Bevölkerung im internationalen Vergleich anormal niedrig ist. Es müssten mindestens 55% sein. Hier besteht eine verkappte Arbeitslosigkeit. Und wenn man noch berücksichtigt, dass im staatlichen Bereich wohl um die Million Angestellte überflüssig sind, die im Wesen subventionierte Arbeitslose sind, kommt man auf eine noch viel höhere Zahl. Allein, auch ohne all dies kann man die effektive Arbeitslosigkeit per Ende September 2020 auf etwa 30% der aktiven Bevölkerung veranschlagen. Das dürfte der höchste Koeffizient sein, den es bisher gegeben hat. Im Jahr 1932, als die damalige Krise ihren Höhepunkt erreichte, hatte die Polizei der Bundeshauptstadt eine Arbeitslosigkeit von 28% ermittelt. Das war einer grobe Schätzung, die jedoch nicht weit von der Wirklichkeit entfernt war. Zum Unterschied von damals beziehen heute viele Arbeitslose eine direkte Subvention, die spezifisch für diesen Zweck besteht, viele haben schon eine Pension, und andere erhalten im Rahmen bestehender Sozialprogramme eine finanzielle Unterstützung, oder sie haben sonst ein Einkommen. Das führt dazu, dass das Problem nicht so krass in Erscheinung tritt wie 1932.

Die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen wird allgemein mit Investitionen in Verbindung gebracht. Doch private Investitionen werden auf längere Zeit beschränkt sein, und öffentliche noch mehr. Die ständige Ankündigung neuer staatlich finanzierter Investitionen durch den Präsidenten ist eine unverantwortliche Phantasie. Der Staat hat kein Geld und muss den Sozialausgaben absoluten Vorrang einräumen. Was Investitionen betrifft, so müssen die schon begonnenen Vorrang haben und schnell beendet werden, ohne neue zu beginnen. Die Privatunternehmen stehen unter extremen finanziellen Druck, und müssen zunächst sehen, wie sie überleben. Investitionen kommen nur ausnahmsweise in Frage.

Die Regierung muss sich bewusst sein, dass man Arbeitsplätze innerhalb der bestehenden Produktionsstruktur schaffen muss. Dies erfordert eine Ausnutzung bestehender Kapazitäten, wobei auch potentiell instabile Arbeitsplätze besetzt werden müssen. Letzteres ist nur möglich, wenn die Arbeitsgesetzgebung geändert wird, wie wir es an dieser Stelle vorgeschlagen haben. Wenn heute ein Industrieunternehmer plötzlich vor einer hohen Nachfrage steht, wird er es sich zwei Mal überlegen, ob er zusätzliche Arbeitskräfte einstellt, statt den Fall mit Extrastunden oder Verzicht auf einen höheren Umsatz zu lösen.

Der Gewerkschafter und K-Deputierte Hugo Yasky, vom wenig bedeutenden Gewerkschaftsverband CTA (der nicht mit der CGT mitmacht, die alle wichtigen Gewerkschaften umfasst) hat jetzt vorgeschlagen, die legale wöchentliche Arbeitszeit (Gesetz 11.544) von 48 auf 40 Stunden zu verringern. 2017 hatte eine Gruppe, benannt “Die Linksfront der Arbeiter”, vorgeschlagen, dass es nur 30 Wochenstunden seien. Das wurde im Kongress nicht Ernst genommen. In Wirklichkeit liegt die wöchentliche Arbeitszeit laut einer privaten Erhebung bei durchschnittlich 38 Stunden. Doch in bestimmten Fällen sind es 48 Stunden, und auch mehr (mit Extrastunden), wenn ein Unternehmen kurzfristig stark belastet ist. Yasky hat sich auch gegen die Festsetzung eines Durchschnitts ausgesprochen, wie es in Brasilien seit der Reform von Präsident Michel Temer, Vorgänger von Bolsonaro, der Fall ist. Mit dem brasilianischen System wären die 40 Wochenstunden gewiss leichter zu verkraften. Ohne dies entstehen ständig Extrastunden, die mit 50% zusätzlich entlöhnt werden, und somit die Kosten in die Höhe treiben.

Ob der Vorschlag von Yasky im Kongress durchkommt, ist fraglich. Für die Gewerkschafter, auf deren Meinung es ankommt, geht es jetzt nicht um 48 oder 40 Wochenstunden, sondern um die Erhaltung der Arbeitsplätze. Entlassungen sind vorläufig faktisch verboten, weil die doppelte Entschädigung sie kaum möglich macht. Aber dieser Zustand kann nicht ewig beibehalten werden. Ohnehin findet ein ständiger Abbau von Arbeitsplätzen durch Pensionierung (auch vorzeitige) und Rücktritte (bei vereinbarter Entschädigung) statt, wobei die freiwerdenden Stellen meistens nicht neu besetzt werden.

Die hohe Arbeitslosigkeit und die Abnahme des Reallohnes und des Realeinkommens der selbstständig Tätigen, haben die Armut allgemein in die Höhe getrieben. Von der Gesamtbevölkerung werden vom sozialen Institut der katholischen Universität von Buenos Aires auf der Grundlage von INDEC-Zahlen im 2. Quartal 45% bis 47% der Gesamtbevölkerung als arm eingestuft. Im 1. Quartal waren es noch um die 35%, und in früheren (fernen) Zeiten waren es unter 10%. Auch andere Institute und Fachleute, die sich mit dem Thema befassen, gelangen zu ähnlichen Ergebnissen. Und wenn nichts geschieht um die bestehende Tendenz zu unterbrechen, dürften es bald 50% sein. Das sollte in einem Land wie Argentinien gewiss nicht sein.

Das Durchschnittseinkommen der Beschäftigten lag im 2. Quartal laut INDEC um 16% unter dem Vorjahr. Doch bei der unteren Gruppe von 10% der Beschäftigten betrug der reale Rückgang 28,7%, und bei den oberen 10% nur 11,9%. Hierzu sei noch bemerkt, dass die ärmeren Familien keine Reserven haben, wie es bei denjenigen der Fall ist, die normalerweise ein höheres Einkommen haben und auch sparen können.

Diese Lage führt dazu, dass viele Mieter die Miete nicht zahlen können, Unter normalen Umständen müssten sie die Wohnung verlassen, wobei die meisten keine andere haben, und auch nicht bei Familienangehörigen unterkommen können. Die Regierung hat jetzt das Räumungsverbot bei Ablauf des Mietvertrages oder nicht-Zahlung der Miete verlängert. Doch das führt dazu, dass leerstehende Wohnungen nicht vermietet werden, was ein Problem für potentielle Mieter schafft, und prinzipiell in einem Land mit Wohnungsknappheit irrational ist. Die Lösung besteht grundsätzlich in einer Bankgarantie, die wiederum von der ANSeS gesichert ist, so dass der Wohnungsbesitzer die Miete erhält (oder zumindest 80% derselben). Dieses soziale Problem kann nicht den Hausbesitzern aufgebürdet werden, sondern es muss dem Staat zur Last fallen. Das Mietenproblem wird jetzt, im Zuge der Vertiefung der Krise, nicht verschwinden, sondern verstärkt auftreten. Die Regierung sollte sich jetzt schon Gedanken darüber machen. Das neue Mietengesetz löst das Problem nicht. Es regelt nur die normalen Beziehungen zwischen den Parteien, aber nicht das Problem der Säumigkeit und der Räumung.

Der Einkommensverlust betrifft auch den Mittelstand. Das führt u.a. dazu, dass Familien bei der Erziehung ihrer Kinder von Privatschulen auf öffentliche übergehen. Das merkt man vorläufig wegen der Quarantäne kaum, wird aber im nächsten Schuljahr sichtbar auftreten. Der Anteil privater Schulen ist, gemessen an der Zahl der Schüler, in Argentinien im internationalen Vergleich anormal hoch, und dürfte jetzt auf einen normalen Stand zurückgehen. Das bedeutet, dass auf die Regierungen, an erster Stelle der Stadt und der Provinz Buenos Aires, ein Problem zukommt, da sie eine höhere Kapazität ihrer Schulen benötigen. Kümmern sie sich schon jetzt um dies?

Die tiefe Rezession verursacht noch viel mehr Probleme. Man muss zunehmende Folgen der unmittelbaren Folgen in Betracht ziehen. Und dabei entstehen zusätzliche soziale Probleme, die nach und nach auftreten. Das belastet die Staatskasse immer mehr, die schon jetzt Sozialausgaben aufweist, die keine echte Finanzierung haben. Somit muss man sich überlegen, wie man erreicht, dass Personen, die ihr Einkommen ganz oder zum großen Teil eingebüßt haben, wieder zu einem normalen Einkommen gelangen. Das bezieht sich an erster Stelle auf eineumfassende Beschäftigungspolitik, die es gegenwärtig nicht gibt.

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