Von Juan E. Alemann
Argentinien ist weltweit das Land mit der längsten Inflationsperiode, und auch das einzige, das dabei drei Hyperinflationen erlebt hat, die als Preissprünge von um die 50% in einem Monat definiert werden. Der Ökonom Phillip Kagan hat die verschiedenen Hyperinflationen studiert, die in der Welt aufgekommen sind, und dabei festgestellt, dass bei dieser Größenordnung der Inflation das Geld seine Funktionen verliert. Bei Hochinflation verbleibt die Funktion als Tauschmittel, auch wenn das Geld nicht oder nur wenig für Sparzwecke eingesetzt wird, und die Werte in anderen Währungen gemessen werden. Bei Hyperinflation wird das Geld auch nicht mehr als Tauschmittel verwendet. Die Erinnerung an die wiederholten Hyperinflationswellen führt dazu, dass die Bevölkerung die Möglichkeit einer neuen Hyperinflation nicht ausschließt, und dementsprechend handelt.
Die argentinischen Hyperinflationen fanden jeweils im März 1976, und danach in den ersten Monaten 1989 und nochmal ein Jahr später statt. Meistens lag die Inflation zwischen 20% und 40% jährlich, aber gelegentlich war sie auch höher, wie es jetzt der Fall ist. Die einzelnen Regierungen, die dies betraf, waren gewiss nicht darüber erfreut, und haben die Inflation auch bekämpft, mit unterschiedlichem Erfolg. Perón ist es gelungen, das Jahr 1952 mit unter 2% im ganzen Jahr zu beenden, und Menem gelang es, die Inflation ab 1991 auf ein Minimum zu halten. In beiden Fällen wurde diese Politik nicht fortgesetzt. Andere Präsidenten hatten unterschiedlichen Erfolg, aber keiner erreichte, dass die Inflationsrate auf Dauer zumindest einstellig bleibt.
Die argentinische Erfahrung zeigt, dass die Inflationsbekämpfung sehr schwierig ist und nicht bagatellisiert werden sollte. Macri sagte bei seiner Wahlkampagne im Jahr 2019, die Abschaffung der Inflation sei sehr einfach, und das war verhängnisvoll, weil er dann die Inflation auch nicht effektiv bekämpfte. Auch Präsident Alberto Fernández war schlecht beraten, als er am letzten Freitag von einem Krieg gegen die Inflation sprach und schließlich nicht wusste, wie und gegen wen er diesen Krieg führen sollte.
Die Multikausalität
Der Präsident sprach von “Multikausalität”, womit er gegen diejenigen Stellung bezieht, die die Inflation als ein rein monetäres Problem hinstellen. Angenommen es gelingt, die Geldschöpfung auf Null zu senken oder nur im Ausmaß der Zunahme der Wirtschaftsleistung zuzulassen, dann sollte nach Meinung vieler Ökonomen Stabilität eintreten. Doch dies würde zunächst eine starke Rezession herbeiführen, die keine Regierung politisch aushält. Das rein monetäre Konzept der Inflationsbekämpfung ist somit irreal, und sollte beiseitegelassen werden. Was nicht bedeutet, dass die Eindämmung der Geldschöpfung ein wesentlicher Bestandteil einer Stabilisierungspolitik ist. Das stark gestiegene Defizit der Staatsfinanzen im Februar, auf das wir an anderer Stelle hinweisen, führt auf alle Fälle zu einer Geldschöpfung, die mit Stabilisierungspolitik unvereinbar ist. Wenn die Regierung das Problem der überhöhten Staatsausgaben nicht angeht, dann ist auch bei der Politik der Senkung der Inflationsrate von vorne herein Hopfen und Malz verloren.
Das Zahlungsbilanzproblem
Die erste Gefahr, die bei der Inflation in Argentinien (aber nicht in anderen Ländern) auftaucht, ist eine unausgeglichene Zahlungsbilanz, die den Wechselkurs in die Höhe treibt. In einem Land, das faktisch ein bimonetäres System hat, in dem die Menschen bei ihren wirtschaftlichen Entscheidungen weitgehend in Dollar denken, wirkt sich eine Abwertung sofort auf die Inlandspreise aus, und zwar nicht nur auf die Preise importierter Produkte und der Exportprodukte, sondern allgemein. Die Kursverwaltung gehört somit zum Wesen einer Stabilitätspolitik.
Die Konvertibilität, die unter der Menem-Regierung von Minister Cavallo ab April 1991 eingeführt wurde, mit einem Wechselkurs von eins zu eins zum Dollar, der ein Jahrzehnt beibehalten wurde, hat auch die internen Preise stabilisiert, obwohl 1991 eine bedeutende monetäre Expansion stattfand. Allerdings war die Konvertibilität nur erfolgreich, weil sie von allgemeinen Privatisierungen, Deregulierungen und Ordnung der Staatsfinanzen begleitet wurde, die die Effizienz der Wirtschaft stark erhöhten und stabilisierend wirkten.
Der Kampf um die Einkommensverteilung
Doch abgesehen davon kommt in der Inflation auch der Kampf um die Einkommensverteilung zum Ausdruck. Dass die Gewerkschaften eine so große Macht haben, dass sie Lohnerhöhungen durchsetzen können, die die Unternehmen nur mit Abwälzung auf die Preise oder mit staatlichen Subventionen bezahlen können, ist ein klarer Inflationsfaktor. Ebenso ist es der Fall, wenn die internationalen Preise für die wichtigsten Exportprodukte stark zunehmen, da dann die Inlandspreise der gleichen Produkte entsprechend zunehmen, und das Realeinkommen der Landwirte auf Kosten einer Verringerung anderer sozialer Gruppen zunimmt. Und wenn diese dann den realen Verlust aufholen wollen, dann kommt es zu einer Inflationsspirale. In dieser Beziehung stellt sich jetzt ein Konflikt, der keine Lösung hat.
Wenn die Inlandspreise von Getreide, Ölsaaten und Rindfleisch gesenkt werden, sei es durch höhere Exportzölle oder sonst wie, dann wird eine höhere Produktion gehemmt, die durchaus möglich ist, sich schon in Gang befindet und bitter notwendig ist. Der gegenwärtige Landwirtschaftsminister Julián Dominguez ist sich dessen voll bewusst, und tritt gegenüber seinen Kollegen in der Regierung entschieden gegen die künstliche Verringerung der internen Preise dieser Produkte ein. Bisher hat er sich dabei auch bei Präsident Fernández durchgesetzt.
Die Erhöhung des Exportzolles um 2 Prozentpunkte bei Sojaöl und -mehl ändert für die Landwirte nichts. Sie verringert nur die Marge der Industrie, die Sojabohne verarbeitet. Ob dann weniger Sojabohne lokal verarbeitet wird, und somit die Wertschöpfung der Industrie beim Export wegfällt, lässt sich vorerst nicht sagen, auch wenn man eine Verringerung dieser Exporte vorwegnehmen kann. Die Differenz der Exportzölle bei Rohstoffen und deren verarbeiteten Produkten gleicht zum Teil den höheren Importzoll aus, der bei Importstaaten bei verarbeiteten Produkten gegenüber ihren Rohstoffen besteht. Argentinien hat bisher begreiflicherweise bei der Welthandelsorganisation nicht gegen dies protestiert.
Die Landwirte haben sofort reagiert, obwohl es sie nicht direkt betrifft, und sind mit Traktoren auf die Straßen gegangen, um ihren Protest auszudrücken. Sie befürchten auch, dass noch mehr kommt, und wollen dies verhindern. Der Erlös der Erhöhung der Exportzölle auf Sojaöl und –mehl soll für einen Fonds bestimmt werden, mit dem Mehl für den Inlandskonsum (also für die Herstellung von Brot und Teigwaren) subventioniert wird. Wie das konkret gestaltet wird, wissen die zuständigen Beamten selber noch nicht. Es war auch die Rede von einem Fonds für die Verbilligung von Gemüse. Doch das wurde sofort fallen gelassen, weil es sich faktisch nicht durchführen lässt.
Die Supermärkte als Schuldige
Am Montag hat Produktionsminister Matías Kulftas von den Supermarktunternehmen gefordert, dass sie die Preise binnen 24 Stunden auf den Stand vom 6. März verringern. Er wies darauf hin, dass in der Vorwoche anormal hohe und unerwartete Preiserhöhungen stattgefunden hätten, und drohte auch, das Versorgungsgesetz (ley de abastecimiento) von 1975 anzuwenden, das dem Staat Vollmachten erteilt, die so weit gehen, dass Betriebe auch zeitweilig vom Staat übernommen werden können. Das Gesetz wurde ab März 1976 nicht mehr angewendet, aber merkwürdigerweise nie formell außer Kraft gesetzt. Diese Woche ordnete das Handelssekretariat dann den Supermärkten an, die Preise von einigen hundert Produkten auf den Stand vom 10. März zurückzubringen. Das ist faktisch nicht so einfach, wie es sich Feletti vorstellt, und in der Praxis schwer zu kontrollieren.
Die Maßnahmen, die jetzt getroffen wurden, stellen keine eigentliche Politik zur Inflationsbekämpfung dar. Sie zielen nur darauf ab, dass die Konsumentenpreise im März und April nicht über 5% und eventuell 6% zunehmen. Ob die Regierung dabei erfolgreich ist, sei dahingestellt. Die Supermärkte haben beim Einzelhandel an Lebensmitteln und Artikeln für den Haushalt einen Anteil von einer Größenordnung von bestenfalls 30%. Auch wenn sie sich streng an die Anweisung von Kulfas halten, ist die Wirkung gesamthaft somit begrenzt.
Bei verarbeiteten Lebensmitteln besteht intensive Konkurrenz, und seit 1980 hat Argentinien schon ein Gesetz, das die Ausnutzung dominierender Marktpositionen bestraft. Es fällt auf, dass es für fast gleiche Produkte hohe Preisunterschiede gibt, so besonders bei Teigwaren. Statt Höchstpreise festzusetzen (oder zu vereinbaren, was auf das Gleiche hinausläuft), sollte das Handelssekretariat Listen von Produkten bestimmter Marken veröffentlichen, die billig und genau so gut wie teurere sind. Der Konsument muss orientiert werden, und lernen, sich besser um seine Ausgaben zu kümmern. Womit er dann auch zur Stabilisierung beitragen würde.
In seiner Rede vom Freitag wies der Präsident auf eine Verhandlung der Spitzenverbände der Unternehmen und die Gewerkschaftsleitung hin. Er dürfte jedoch selber nicht so naiv sein, zu glauben, dass es dabei zu einem Stillhalteabkommen über Löhne und Preise kommt. Die Erfahrung zeigt, dass bei Verhandlungen dieser Art jeder seine Position verteidigt, und es zu keinem Ergebnis kommt. Die Entscheidung über eine Politik, die Löhne und Preise stabilisiert, muss von der Regierung getroffen werden.
Die direkten Preiskontrollen
Handelssekretär Roberto Feletti setzt den Akzent der Stabilisierungspolitik auf Preiskontrollen, und steht auch für höhere Exportzölle ein. Bei seiner direkten Preispolitik ist es ihm dabei bisher nicht gut gegangen, nachdem der Index der Konsumentenpreise im Februar eine Zunahme von 4,7% verzeichnet und bisherige Preiserhebungen für März auf über 5% hindeuten. Doch Feletti interpretiert dies eben so, dass die Preispolitik erweitert und strenger gestaltet werden muss, um erfolgreich zu sein. Genau das hat Minister Kulfas jetzt auch zum Ausdruck gebracht.
Bei frischen Lebensmitteln, also hauptsächlich Gemüse und Obst, bei denen die Preise in letzter Zeit stark gestiegen sind, haben weder Feletti noch Kulfas ein Konzept entwickelt, um das Problem anzugehen. Wir erinnern stets daran, dass der Gemüseproduzent in der Umgebung der Großstädte, nur etwa ein Fünftel des Preises erhält, den der Konsument zahlt, was anormal erscheint. Kann dies nicht korrigiert werden? Auf alle Fälle sollte das Problem untersucht werden.
Die Lohnproblematik
Der Lohnproblematik weicht die Regierung aus politischen Gründen aus. Doch ohne dies gibt es keine Stabilisierung. Eine Lohneinfrierung, wie sie 1952 und dann 1967 erfolgreich vollzogen wurde, kommt jetzt kaum in Frage. Aber man kann das Problem auch anders angehen. Wir haben an dieser Stelle vorgeschlagen, dass die paritätischen Lohnverhandlungen in eine Dreierverhandlung umgewandelt werden, bei der auch ein Vertreter des Wirtschaftsministeriums mitmacht, mit Stimme wie die anderen zwei, und mit Vetorecht. Er muss im Prinzip den Konsumenten und die Staatskasse verteidigen, und sich Lohnerhöhungen widersetzen, die auf die Preise abgewälzt werden oder Subventionen erfordern. Und er muss auch für Produktivität eintreten, und Klauseln der Arbeitsverträge beanstanden, die sie hemmen. Die Lohnverhandlungen würden dabei tiefer auf die Lohnproblematik eingehen.
Bei der bestehenden Lohnpolitik gilt das Prinzip der Erhaltung des Reallohnes, das sowohl von den Gewerkschaften wie von der Regierung vertreten wird. Wenn man stabilisieren will, kann dieses Prinzip jedoch nicht beibehalten werden. Der Lohn muss der sein, der unter den bestehenden Umständen verkraftbar ist. Wenn ein bestimmter irrealer Reallohn erhalten werden soll, dann ergeben sich nominelle Lohnzunahmen, die nur mit Preiszunahmen verkraftet werden können. Bei den Lohnabkommen wird das Problem zum Teil gelöst, indem er Zulage für eine 12-Monatsperiode in Raten gezahlt wird, so dass die durchschnittliche Erhöhung der Periode prozentual viel niedriger ist und der Reallohn in Wirklichkeit nicht erhalten wird.
Dass die Löhne langfristig real zunehmen ist in Ordnung, sofern die Wirtschaft wächst. Aber auch dann müssen die Lohnerhöhungen an die Zunahme der Effizienz der Unternehmen gebunden werden. Wenn ein Unternehmen durch Mechanisierung und Automatisierung erreicht, dass die Produktion pro Beschäftigtem zunimmt, ist es logisch, dass die Belegschaft auch davon profitiert und einen höheren Reallohn erhält. Wobei diese Entwicklung auch dazu führen sollte, dass die Preise der Güter, die dabei erzeugt werden, real abnehmen. Die ganze Lohndiskussion muss anders gestaltet werden, damit sie mit Stabilität oder zumindest niedriger Inflation vereinbar ist, Wenn dies nicht verstanden wird, dann ist Hopfen und Malz verloren.
Die Inflationsbekämpfung hat, wie aus obiger Darstellung ersichtlich ist, viel mit Politik zu tun. Die wesentlichen Entscheidungen sind politisch, und erfordern von der Regierung Härte und Entschlossenheit, und kommen zunächst bei der Bevölkerung nicht gut an. Erst in einer zweiten Etappe kann die Regierung ernten, was sie gesät hat, nämlich wenn der starke Rückgang der Inflation die Gemüter beruhigt. Alberto Fernández müsste jetzt mit der Inflationsbekämpfung beginnen, um 2023, noch vor den Präsidialwahlen, zu ernten. Doch diese Weitsicht ist ihm nicht zuzumuten. Dazu fehlt ihm der Charakter, die Überzeugung und auch das tiefere Verständnis der Zusammenhänge.
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