Von Juan E. Alemann
Die Inflation hat sich in den letzten Monaten auf ein hohes Niveau, von 6% bis 7%, eingespielt, und auch September wird nach bisherigen Erhebungen in dieser Größenordnung liegen. Im ganzen Jahr 2022 werden es an die 100% sein, und vorläufig besteht die Aussicht, dass es auch 2023 nicht weniger sein wird. Die Inflation hat eine Tendenz der Selbstbeschleunigung, so dass die Gefahr besteht, dass 2023 schließlich weit über 100% endet. Dies ergibt sich auch aus der Preis-Lohnspirale und einer Zinspolitik, die auf real positive Zinsen abzielt und zu einer Zins-Preisspirale führt.
Die Umfragen bei der Bevölkerung ergeben, dass die Inflation bei den Problemen, die die Menschen beunruhigen, an erster oder höchstens zweiter Stelle nach der Sorge um die persönliche Sicherheit steht. Abgesehen davon hat auch die Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds, Kristalina Georgiewa, sowohl gegenüber Sergio Massa wie Alberto Fernández auf die hohe Inflation als ein Hauptproblem Argentiniens hingewiesen.
Wenn die Inflation nur von der monetären Seite bekämpft wird, dann kommt es zu einer starken Rezession, bis diese Politik wirkt. Die Frage, die sich dabei stellt, besteht darin, wie viel Rezession eine Regierung erträgt. In der Tat kommt dann ein allgemeines Geschrei für eine weichere Geldpolitik auf, um eine Sozialpolitik zu finanzieren, die den durch die Rezession Betroffenen über die Runden hilft. Diesem Druck kann keine Regierung widerstehen.
Die Einschränkung der Geldschöpfung ist in Ordnung. Der Staat muss sparen und mehr einnehmen, um das Defizit progressiv zu verringern, so dass er in zunehmend geringerem Umfang zur Geldschöpfung greifen muss. Aber das genügt nicht entfernt, um die Inflationsrate auf ein zivilisiertes Ausmaß zu senken. An eine einstellige Jahresinflation sollte man zunächst nicht denken. Doch in Argentinien hat die Gesellschaft gelernt, mit um die 20% jährlich auszukommen, also bei den Kosten einzukalkulieren und beim nominellen Einkommen zu berücksichtigen. Dass dabei weiter in Dollar gespart wird, ist etwas anderes. Aber bei 20% jährlich steigt auch die Liquiditätshaltung in Pesos, und das beschränkt den Dollarmarkt und ist auf alle Fälle ein Fortschritt.
Bei der nicht monetären Inflationsbekämpfung geht es zunächst um die Zahlungsbilanz und den Wechselkurs. Die Zentralbank verwaltet den Kurs sehr streng, muss aber in letzter Zeit den Abwertungsrhythmus der Inflation angleichen, so dass es im August 6,8% waren, mehr als doppelt so viel wie vor einigen Monaten. Diese Kurskontrolle ist in der Praxis sehr schwierig, es sei denn, es kommt zu einer tiefen Rezession, die sich direkt auf die Nachfrage nach importierten Gütern auswirkt, was auch die Nachfrage nach Gütern umfasst, die eine relativ hohe Komponente an importierten Teilen haben.
Der Fall wäre einfacher, wenn man mit einem zunehmenden Export rechnen könnte. Doch bei der intensiven Dürre in fast sämtlichen Agrargegenden des Landes, die wesentlich niedrigere Ernten verheißt, ist dies nicht zu erwarten. Die Gesamternte von Getreide und Ölsaat, die vor einigen Jahren einen Rekord von über 140 Mio. Tonnen erreicht hatte und dann in der Periode 2021/22 auf ca. 130 Mio. Tonnen fiel, wird 2022/23 höchstens bei 110 Mio. Tonnen liegen. Auch die Rindfleischproduktion wird von der Dürre betroffen und zu niedrigeren Fleischexporten führen. Unter diesen Umständen muss sehr sorgfältig gewirtschaftet werden. Es reicht nicht, dass viel weniger für importiertes Gas ausgegeben wird, vorausgesetzt die Gasleitung “Néstor Kirchner” befindet sich im Juni 2023 in Betrieb. Die beste Teillösung besteht in der Spaltung des Devisenmarktes, mit einem kontrollierten Kurs für den Warenhandel und einem freien für den Rest. Dass jetzt Dollar zum offiziellen Kurs für Besucher der Fußballmeisterschaft in Katar geopfert werden, ist heller Wahnsinn. Diese Dollar sollten auf dem freien Markt, zu einem viel höheren Kurs, gekauft werden. Dabei würden auch gesparte Dollar eingesetzt werden.
Abgesehen vom Wechselkursproblem muss auch die Lohnpolitik in Angriff genommen werden. Doch davon will die Regierung nicht sprechen, und auch die Unternehmer und private Ökonomen meiden dieses höchst konfliktive Thema. Die Gewerkschaften haben inzwischen schon eine Politik durchgesetzt, bei der die Arbeitsabkommen, die für ein Jahr abgeschlossen werden, im Laufe des Vertragsjahres mehrmals korrigiert werden. In einigen Fällen wurden die Löhne bis zu fünf Mal angehoben. Und jetzt, da von einer Jahresinflation von ca. 100% die Rede ist, wollen Gewerkschaften, die mit bis zu 80% abgeschlossen haben, auch auf 100% gelangen.
Das bringt die Lohn-Preisspirale in Schwung. Die Unternehmen, die vor zusätzlichen Lohnerhöhungen stehen, müssen die Preise schon vorher erhöhen, um sich die Mittel zu beschaffen, die sie für die Zahlung der Erhöhungen benötigen. Dies durch Höchstpreise oder Preiseinfrierungen beschränken zu wollen, funktioniert erfahrungsgemäss nicht. Das Einzige, was effektiv wirkt, ist eine starke Rezession, die die Haltung der Unternehmer verhärtet und die Gewerkschaften schwächt, weil die Arbeitnehmer dabei die Erhaltung ihres Arbeitsplatzes vor eine Lohnerhöhung stellen. Dann hört auch das Gerede über den Reallohn auf.
Allein, es kann auch sonst viel getan werden, um zu verhindern, dass die Lohn-Preisspirale sich immer schneller dreht. Unmittelbar sollte die Regierung Grenzen bei den Lohnerhöhungen festsetzen, und bestimmen, dass bei Übertretung die Allgemeingültigkeit der Arbeitsverträge (auf Spanisch “homologación”) verweigert wird, so dass sich Unternehmen, die nicht dem Branchenverband angehören, nicht an das Abkommen halten müssen. Dies sollte als erstes bei der Reifenindustrie (FATE, Bridgestone und Pirelli) angewendet werden, die sei Monaten einen Dauerkonflikt durchmacht, der die Reifenproduktion mindestens halbiert hat.
Ferner sollte an eine Reform des Systems der paritätischen Lohnverhandlungen gedacht werden, mit einem Vertreter des Staates, mit vollem Stimmrecht, der die Konsumenten vertritt. Denn bei diesen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen einigen sich beide auf Lohnerhöhungen, die dann auf die Preise abgewälzt werden und vom Konsumenten bezahlt werden, der keine Stimme bei der Verhandlung hat. Diese sollte er durch den offiziellen Vertreter erhalten.
Die Bevölkerung hat den Eindruck, dass sie schon jetzt in einer Rezessionsphase lebt. Das stimmt keineswegs. Der erfahrene Konsumforscher Guillermo Oliveto weist in seinem letzten Artikel in der Zeitung “La Nación” auf die gedrückte Stimmung hin, die gegenwärtig besteht, aber nicht den Zahlen über Entwicklung der Industrieproduktion und des Konsums entspricht, die erst in den letzten Wochen zunehmende Schwächezeichen aufweisen. Die wirkliche Rezession kommt noch. Je weniger die Regierung die Inflation mit nicht monetären Mitteln bekämpft, umso tiefer wird sie sein. Dessen scheint sich weder die Regierung, noch das wirtschaftliche Establishment, noch die Gesellschaft allgemein, bewusst zu sein.
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