Von Juan E. Alemann
Am 1. September wurde, wie jedes Jahr, der Tag der Industrie gefeiert, dieses Mal nicht, wie üblich, in einem zentralen Ort der Stadt, sondern in der Keramikfabrik Alberdi, im Vorort José C. Paz. Weder Präsident Alberto Fernández noch Produktionsminister Matías Kulfas waren anwesend. Die Regierung war nur von Industriesekretär Ariel Schale und Handelssekretärin Paula Español vertreten. Sofort kam die Lesart auf, dass der Präsident sich nicht mit dem Konflikt mit den landwirtschaftlichen Verbänden begnüge, sondern jetzt auch einen mit der Industrie schaffe. Der Präsident hat den Tag der Industrie in der Provinz Chaco gefeiert, die bezüglich Industrie eine zweitrangige Rolle spielt. Warum er das getan hat, ist sein Geheimnis.
Der Präsident hat eine einzigartige Gelegenheit verpasst, um die Stützung der Industrie durch seine Regierung hervorzuheben, nämlich einmal durch Notmaßnahmen, um die Pandemie und ihre Folgen zu überstehen, dann durch Begrenzung von Importen von Produkten, die mit lokal erzeugten konkurrieren, und schließlich durch weiche Kredite verschiedener Art. Der Peronismus hat schließlich eine Tradition der Industrialisierung, waren doch die Industriearbeiter von Anfang an seine politisch wichtigste Stütze. Hat niemand dies dem Präsidenten gesagt?
Hinzu kam dann noch die abfällige Äußerung von Axel Kicillof, Gouverneur der Provinz Buenos Aires (die den größten Anteil an der Industrie hat), dass diese Vertreter der Industrie weder Unternehmer noch Argentinier seien. Kicillof hätte sich diese Beleidigung sparen können. Dennoch hat er insofern recht, als der Präsident der Union Industrial Argentina, Daniel Funes de Rioja, ein angesehener Arbeitsanwalt ist, der die bei weitem größte Kanzlei auf diesem Gebiet betreibt, aber keinen Industriebetrieb leitet oder besitzt. Auch sonst sind keine bedeutenden argentinischen Unternehmer im Vorstand der UIA vertreten.
Außerdem sind viele bedeutende lokale Industrieunternehmen ab 1990 auf ausländische Konzerne übergegangen, so dass die Personen, die als Vertreter der Industrie auftreten, in vielen Fällen entsandte Beamte von multinationalen Unternehmen sind, also keine Argentinier, wie es Kicillof sagte. In der Tat sind die hervorragenden Figuren der Industrie, die früher das Unternehmerbild der Industrie prägten, verschwunden. Arturo Acevedo von Acindar, Roberto Frazer von Alpargatas, Leonardo Prati von Fabril Financiera und Celulosa Argentina, Enrique Patrón Costas von der Zuckerfabrik San Martín del Tabacal, Alfredo (und nachher Amalia) Fortabat von der führenden Zementfirma Loma Negra, Mario Hirsch und Jorge Born (Vater), von Bunge & Born (ein Konzern mit mehreren großen Industrieunternehmen), und viele andere sind nicht mehr da, und auch nicht ersetzt worden. Das ist schädlich, da die entsandten Geschäftsführer meistens die Unternehmen ordentlich leiten, aber schwache Verhandlungspartner mit der Regierung sind, weil sie Konflikte befürchten, bei denen die Führung ihrer Muttergesellschaft sie dann opfert. Außerdem haben die lokalen Tochterfirmen finanzielle Rückdeckung von ihren Konzernen, so dass sie die Finanzen anders sehen als rein lokale Unternehmen. Außerdem haben diese Konzerne in mancher Hinsicht andere Interessen als rein lokale. U.a. liegt es ihnen gelegentlich mehr daran, Produkte zu importieren, die vom Konzern woanders erzeugt werden, als sie hier herzustellen. Anderseits erleichtert die Präsenz in anderen Orten der Welt auch den Export, einen Vorteil den rein lokale Unternehmen nicht haben. Tochtergesellschaften multinationaler Firmen treten daher grundsätzlich für eine offene Wirtschaft ein, rein lokale hingegen neigen zu einer geschlossenen. Das erschwert dann die Stellungnahme des Spitzenverbandes Unión Industrial Argentina.
Die Industrie hat in den letzte drei Jahrzehnten einen Prozess der Übernahme durch ausländische Konzerne erlebt, den es sonst nirgend auf der Welt gegeben hat. Ganze Branchen, die früher in argentinischen Händen waren, werden jetzt von ausländischen Unternehmen beherrscht, so Stahl, Zement, Farben, und bestimmte Bereiche der Lebensmittelindustrie (wie Kekse). Hinzu kommen noch die Kfz-Industrie und die Petrochemie, die von vornherein ausländisch waren.
Das Vordringen ausländischer Unternehmen beruht hauptsächlich auf das Fehlen eines entwickelten Kredit- und Kapitalmarktes in Argentinien. Die lokalen Unternehmen haben sehr beschränkte finanzielle Möglichkeiten, an erster Stelle um Arbeitskapital zu finanzieren. Bei Investitionen ist es noch schlimmer, weil die Unterbringung von Aktien an der Börse nur ausnahmsweise möglich ist. Auch der Zugang zum internationalen Kredit- und Kapitalmarkt ist beschränkt, einmal wegen der Devisenbewirtschaftung, die die Überweisung von Dividenden hemmt, und dann, weil der private Finanzmarkt vom Konflikt der staatlichen Schulden überschattet wird.
Die Struktur der argentinischen Industrie hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das bezieht sich einerseits auf Industrien, die verschwunden sind. Es werden keine Telefone, keine Schreibmaschinen, keine Nähmaschinen, keine mechanische Rechenmaschinen, keine Brillenfassungen und vieles andere hergestellt. Die Textilindustrie, die bis 1990 praktisch die gesamte lokale Nachfrage versorgte, wurde von importierten Textilien stark verdrängt. Das gleiche Phänomen trat bei Eisschränken u.a. Produkten für den Haushalt auf. In vielen Fällen versorgen sich lokale Industriebetriebe jetzt mit importierten Teilen, die früher im Land hergestellt wurden.
Auf der anderen Seite sind große petrochemische Betriebe aufgekommen, die Stahlproduktion wurde stark erhöht, ebenso die von Zellulose und Papier, es entstand ein großes Aluminiumwerk, und es wurden viele Ethanolfabriken errichtet. Die Liste neuer Industriebetriebe, von denen viele in bisher nicht besetzte Gebiete eindrangen, ist sehr lang. Im Bereich der Fahrzeuge und Motorräder fand eine allgemeine Erneuerung der Fabriken statt, die jetzt nicht viel anders als in den Industriestaaten sind, wobei auch neue Unternehmen wie Toyota, hinzugekommen sind.
Auch sollte man nicht vergessen, dass die Speiseölindustrie eine phänomenale Expansion erlebt hat, die mit dem Aufkommen der Sojabohne zusammenhängt, die in den 90er Jahren eingesetzt hat. Diese Industrie hat jetzt eine Kapazität für die Verarbeitung von 60 Mio. Jato Sojabohne (zu der noch Sonnenblume hinzukommt), gut zehn Mal so viel wie vor drei Jahrzehnten. Beim Export von Sojabohne wird der größte Teil in Form von Öl und Mehl exportiert.
Gegenwärtig wird der Import von Industrieprodukten, die mit lokal hergestellten konkurrieren, stark eingeschränkt, was vielen lokalen Fabriken eine zusätzliche Expansion erlaubt. Die Devisenbewirtschaftung hat hier eine direkte Wirkung, wie es schon ab 1935 der Fall war, als die Zentralbank gegründet und eine strenge Devisenbewirtschaftung eingeführt wurde, weil keine ausreichenden Devisen vorhanden waren, nachdem der Export infolge der Weltwirtschaftskrise stark geschrumpft war.
Normalerweise sollte die lokale Industrie durch den Zollsatz ausreichend geschützt sein. Ein Satz von 35%, der höchste, der in Argentinien gilt, wird international fast als ein Importverbot betrachtet. Doch in Argentinien werden die Importwerte in vielen Fällen (den meisten bei Gütern mit einem Zollsatz von 35%?) verfälscht, oder die Produktart und Qualität, gelegentlich auch die Menge, wird falsch angegeben, so dass der Zollsatz, berechnet auf den effektiven Wert, stark schrumpft. Aus 35% werden gelegentlich 10%.
Die Industrie hat sich weltweit in den letzten Jahrzehnten stark verändert, und das betrifft auch die lokale. Früher wurde versucht, mehr im eigenen Betrieb herzustellen, heute wird zunehmend auf Lieferanten übergegangen, die auf bestimmte Produkte spezialisiert sind. Dabei spielt auch das Auftreten von China u.a. Staaten des fernen Orients eine Rolle, die eine bedeutende Industrie aufgebaut haben, ganz besonders bei elektronischen Teilen. Die lokale Fahrzeugindustrie wies in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Anteil an eigener Wertschöpfung am Fabrikpreis des Endprodukts von etwa 80% bis 90% auf, während es heute nur 30% bis 40% sind. Auch das hat dazu beigetragen, dass die Dollarpreise (ohne Steuern) von Automobilen, Pick-ups und Lastwagen nur wenig über den internationalen liegen, während sie früher mindest doppelt so hoch waren. Die argentinische Industrie ist allgemein moderner und effizienter geworden, was ihr in vielen Fällen auch erlaubt, zu exportieren.
Der Tag der Industrie war eine gute Gelegenheit, um an die Themen, die wir hier aufgeführt haben, heranzugehen, und der Regierung zu helfen, eine Industriepolitik auszuarbeiten. Indessen gab es nur Gemeinplätze und nichts Konkretes. Es fällt wirklich auf, dass sich die lokalen Industrieunternehmer so wenig um die konkreten Probleme kümmern, die sie betreffen, wie u.a. das des Zollamtes.
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