Von Juan E. Alemann
Nach einer so großen Wahlniederlage der Regierungskoalition bei den PASO-Wahlen, ist es unvermeidlich, dass zunächst die Schuldfrage aufkommt. Cristina bemühte sich ohne Umschweife, Präsident Alberto Fernández für das Versagen verantwortlich zu machen, und dieser antwortet darauf mit klaren Gesten der Distanzierung. Er interpretierte wohl auch die brutalen Angriffe von Cristina und ihren Leuten, wie der Deputierten Fernanda Vallejos, die ihn als Taugenichts („mequetrefe”) und illegaler Inhaber der Präsidentschaft (“ocupa”) bezeichnete, als einen Wink mit dem Zaunpfahl, dass er zurücktritt, so dass Cristina wieder Präsidentin wird. Doch offensichtlich will er Präsident bleiben, und zählt dabei mit einer allgemeinen Unterstützung. Er antwortete Cristina nicht sofort, und folgte auch nicht ihren Weisungen. Und das macht sie noch mehr wütend. Plötzlich hat Alberto Fernández eine Machtposition erhalten, die er bisher nicht hatte, oder nicht haben wollte.
Doch im Grunde geht es um weit mehr als die Verantwortung für die Wahlschlappe. Es ist jetzt klar geworden, dass innerhalb der Regierung zwei total unterschiedliche und weitgehend gegensätzliche Konzepte über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik aufgetreten sind, die unvereinbar sind, wobei dieser Zustand ein großes Hindernis für die Überwindung der tiefen Krise ist, in der sich das Land befindet, die noch tiefer wird, wenn dieser Gegensatz in der Regierung beibehalten wird. Die Stunde der Entscheidung ist gekommen.
Cristina Kirchner ist eine sehr machtbewusste Person, und sie übt ihre Macht mit Brutalität und ohne Rücksicht auf andere aus. Sie ist keine Intellektuelle und ist ungebildet, was sie mit einer natürlichen Intelligenz vertuscht. Ihre politischen Ideen hat sie von anderen übernommen, und sie auch nur halbwegs verstanden. Grundsätzlich geht sie von der marxistischen Montonero-Ideologie aus, die sie in ihrer Studienzeit an der Universität La Plata aufgenommen hat, als sie den Montoneros nahestand. Der oberste Montonero-Führer, Mario Firmenich hat ohne Umschweife gesagt, er sei Marxist. Doch innerhalb der verschiedenen Formen des Kommunismus, gefiel den Montoneros die jugoslawische am besten, also mit sämtlichen Großunternehmen als Staatsunternehmen, und privaten Kleinunternehmen, wobei bei etwas größeren Unternehmen die Grenze von Fall zu Fall gezogen wurde.
Der Kirchnerimus ist die politische Fortsetzung des Montonero-Terrorismus, und hat im Wesen die gleiche Ideologie. Das hat Néstor Kirchner klar gezeigt, als er die Verfolgung der Militärs wieder aufnahm, deren Gerichtsverfahren juristisch beendet waren, und laut Verfassung nicht wieder aufgenommen werden konnten. Zu diesem Zweck hat er auch mehrere Mitglieder des Obersten Gerichtshofes, die sich dieser Verletzung der Verfassung widersetzten, einfach rausgeschmissen, mit einem absurden politischen Prozess. Die politische Annäherung der Kirchner-Regierung zu Kuba, und dann auch die enge Verbindung zu Venezuela von Chávez, ging auch in diese Richtung. All das stellte symbolisch den Sieg der Montoneros über die Militärs dar.
Beiläufig zeigte Néstor Kirchner dabei eine totale Verachtung der Rechtsordnung, die dann auch in seiner Regierung und der von Cristina zum Ausdruck kam. Auch das war ein wesentliches Merkmal des Kirchnerismus. Hier kommt auch die marxistische Auffassung zum Ausdruck, dass die bestehende Rechtsordnung nur ein Mittel zur Festigung des Kapitalismus ist.
Hier sei daran erinnert, dass Perón bei seiner letzten Rede vom Regierungsbalkon aus, von einer Kolonne von Montoneros arg beschimpft wurde, und darauf wütend reagierte, sie ebenfalls beschimpfte, und die Treue der Gewerkschaften lobte. Die Montoneros u.a. zogen sich dann massiv zurück, als klares Zeichen, dass sie Perón nicht unterstützten. Unter denen, die weggingen, befanden sich auch Néstor Kirchner und Cristina Fernández, die damals Studenten waren. Seither weiß man, wo die Kirchners ideologisch stehen, und dass sie im Wesen keine Peronisten sind. Néstor Kirchner äußerte sich privat abfällig über Perón.
Hinzu kommt bei den Kirchners ein eigenartiges Konzept der Bereicherung der Regierenden durch einen gigantischen und systematischen Raub am Staat zum Ausdruck. Néstor Kirchner machte Politik mit Geld, und vertrat das Konzept, dass dies die Grundlage sei, um sich politisch durchzusetzen. Er hatte seine Präsidentschaftskampagne mit den Mitteln finanziert, die aus den geschuldeten Erdölgebühren stammen, die der Provinz Santa Cruz gezahlt wurden, die er jedoch als Gouverneur in die eigene Tasche steckte. Es waren zunächst u$s 654 Mio., die dann durch den Kauf von YPF-Aktien zu u$s 19 pro Aktie und den Verkauf zu u$s 44 an Repsol zu u$s 1,2 Mrd. wurden. Er hatte somit Geld im Überfluss, um Fernsehauftritte und Journalisten zu bezahlen, und auch Politiker von Menem (die sogenannten “punteros”) zu bezahlen, die auf ihn übergingen. Néstor Kirchner rechtfertigte dies mit dem Hinweis, dass sonst nur die Rechtsparteien Geld von den Unternehmern bekämen. Das sagte er vorsichtshalber nicht öffentlich.
Schließlich hat Néstor auch ein Konzept des Freundenkapitalismus entwickelt, bei dem seinen Strohmännern oder Partnern, wie Lázaro Báez, Cristóbal López und Sebastián Eskenazi, Geschäfte zugeschanzt wurden. Und dann kam noch ein ausgeprägter Interventionismus hinzu, mit dem Ziel, den Markt durch Regelungen der Regierung zu ersetzen. Wobei diese Regelungen für Freunde nicht immer galten. Z.B. wurde Cristóbal López gestattet, die Steuer auf Benzin und Dieselöl einzubehalten, statt sie sofort an die AFIP zu überweisen, wie es das Gesetz vorschreibt. Erst jetzt zahlt er die Schuld, zum gleichen Nennwert in Pesos wie vor über 10 Jahren, und in monatlichen Raten und einem Zinssatz, der weit unter der Inflation liegt. Am Schluss zahlt er wohl nur ca. 5% des ursprünglichen Dollarwertes. Amigo-Kapitalismus auf Hochtouren!
Bei Cristina ist dann noch der missverstandene Keynesianismus hinzugekommen, den ihr Axel Kicillof eingeflößt hat. In der Praxis bedeutet das eine Politik des Geldüberhangs, um die Nachfrage anzukurbeln und eine ausgedehnte Sozialpolitik plus sonst noch alles Mögliche finanzieren zu können. Während Keynes das Konzept der Geldschöpfung auf Rezessionsperioden beschränkt hatte, handelt es sich für Kicillof, der ideologisch auch vom Marxismus kommt, um eine ständige Politik. Über die Grenzen der monetären Expansion und die Gefahr der Hyperinflation macht sich Kicillof keine Gedanken. Das totale Unverständnis der monetären Problematik hat Cristina jetzt erneut zum Ausdruck gebracht, als sie den Erfolg von Guzmán bei der starken Verringerung des Staatsdefizites im ersten Halbjahr 2021 als einen großen Fehler darstellte, weil der Staat dabei zu wenig ausgegeben hat.
Alberto Fernández teilt diese Weltanschauung wohl nur in Nebenaspekten. Aber grundsätzlich ist er ein Pragmatiker, der auf der einen Seite eine umfassende Sozialpolitik befürwortet, aber die Marktwirtschaft erhalten will, und sich intuitiv bewusst ist, dass die Staatsintervention in Grenzen gehalten werden muss, und die Geldschöpfung auch. Alberto Fernández war Vorsitzender der Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen unter Cavallo als Minister, als das Versicherungssystem liberalisiert wurde (die bis dahin staatlich festgesetzten Tarife wurden abgeschafft), und danach wurde er auch Stadtrat für dessen Partei, also nicht für den Justizialismus. Politisch ist er flexibel, was er auch dadurch gezeigt hat, dass er nach seinem Rücktritt als Kabinettschef unter Cristina als Präsidentin, bei seinen zahlreichen Fernsehauftritten scharfe Kritik an ihr geübt hat, und danach als Präsident das Gegenteil sagte. Was jedoch gilt, ist seine Kritik, nicht seine unterwürfige Haltung als Präsident, die politische bedingt ist.
Die Wirtschaftler der Regierung, an erster Stelle Wirtschaftsminister Martín Guzmán, aber eventuell auch Produktionsminister Matías Kulfas und ZB-Präsident Miguel Angel Pesce und die Staatssekretärin im Amt des Kabinettschefs Cecilia Todesca Bocco, dürften dem Präsidenten klar erklärt haben, wie gefährlich die Lage ist. Ohne ein baldiges Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds, das u.a. eine tiefgreifende Reform in der Staatsstruktur beinhaltet, plus weitere Maßnahmen in der gleichen Richtung, ist die Hyperinflation mit totalem Zusammenbruch der Wirtschaft unvermeidbar. Präsident Fernández dürfte dies schließlich verstanden haben, zumal es ihm ein Dozent der Columbia-Universität erklärt hat, der wissen muss, wie man Studenten komplexe Probleme verständlich macht.
Doch Cristina teilt diese Anschauung in keiner Weise. Sie will zunächst dem Fonds nichts zahlen, und lässt es auf einen Default ankommen, wenn dieser sich damit nicht einverstanden erklärt. Als Präsidentin hatte sie schon die Klage der Holdouts ignoriert, bei der der argentinische Staat schließlich verurteilt wurde, u$s 18 Mrd. zu zahlen, die sie jedoch nicht zahlte, aber Macri zahlen musste, weil Argentinien sonst aus der internationalen Finanzwelt ausgeschlossen würde. Hätte sie mit den Holdouts verhandelt, wäre der Betrag bestimmt viel geringer ausgefallen. Während Alberto begreift, dass Argentinien normale Beziehungen zu anderen Ländern benötigt, spielt dies für Cristina keine Rolle. Sie geht ohnehin davon aus, dass die großen Staaten Schwellenländer wie Argentinien nur ausbeuten wollen. Das entspricht der marxistischen Imperialismustheorie. Auch das macht einen wesentlichen Unterschied zwischen Alberto und Cristina aus. Denn Alberto geht davon aus, dass die großen Staaten Argentinien helfen wollen, wobei der Handelsaustausch, die Kapitalinvestitionen und allerlei Geschäfte beiden nützen.
Um bei seiner Politik erfolgreich zu sein, muss sich Alberto Fernández unmissverständlich von Cristina distanzieren. Denn sie wirkt allein durch ihre Präsenz und ihre verkehrten Auffassungen wie ein dunkler Schatten, der den wirtschaftspolitischen Kurs von Alberto erschwert. Die Unternehmerwelt hat Panik vor Cristina. Man erinnere sich daran, wie der Sieg der Koalition von Cristina und Alberto bei den PASO-Wahlen von 2019 von einem Tag auf den anderen die Landesrisikorate in die Höhe trieb, und es keine neuen Auslandskredite für den Staat gab. Präsident Fernández muss klar zeigen, dass der Kirchnerismus nicht wiederkommt, und in dieser Sache auch die Unterstützung der Opposition (JxC, “Zusammen für den Wechsel”) haben.
Argentinien wird nur als ein normales Land eingestuft werden, das die Spielregeln der internationalen Finanzwelt achtet, wenn zwei große Koalitionen die politische Szene beherrschen, und beide für die strenge Achtung der Regeln eintreten, die weltweit gelten. Die Regierungskoalition “Front für alle” (Frente de todos) muss sich vom Kirchnerismus befreien und zu ihren peronistischen Wurzeln zurückkehren. Der Peronismus ist im Wesen eine kreolische Abart der Sozialdemokratie, ist jedoch weit entfernt vom Kommunismus. Der Peronismus von Menem entspracht dem Konzept des weisen Perón seiner letzten Jahre, (der dies in einer Rede im Theater Cervanters, die er einige Monate vor seinem Tode vor Unternehmern hielt, klar zum Ausdruck brachte) und damit kann das Land seine Dauerkrise überwinden und den Fortschritt erreichen, der seinen natürlichen und menschlichen Ressourcen entspricht. Das Konzept der Oppositionskoalition ist nicht weit davon entfernt, wobei sie den Institutionen, der Achtung der Rechtsordnung und den Kampf gegen die Korruption in den Mittelpunkt stellt. Und das ist gut so.
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