Von Juan E. Alemann
Die Regierung hat eine tiefe Identitätskrise, die weit über die Differenzen zwischen dem Präsidenten Alberto Fernández und Cristina Kirchner hinausgeht: Weder er noch sie wissen im Grunde, was sie wollen. Die Gemeinplätze besagen konkret gar nichts und werden auch allgemein nicht Ernst genommen. Gute Absichten bezüglich Wohlstand und allem, was dieser beinhaltet, gehören zum Kern der Politik, sowohl bei extrem Liberalen wie bei Kommunisten - und selbstverständlich auch bei allen anderen.
Néstor Kirchner ist 2003 mit den Stimmen eines Teils der Peronisten an die Macht gekommen, nachdem er vorher die Justizialistische Partei in der Provinz Santa Cruz beherrscht hatte und auf dieser Basis zum Bürgermeister von Río Gallegos und dann zum Gouverneur der Provinz gewählt wurde. Allein, lange vorher, im Jahr 1974, gehörten er und seine damalige Freundin Cristina Fernández zu denen, die beim letzten öffentlichen Auftritt von Perón die Plaza Mayo mit Protest und Gebrüll verließen und von Perón beschimpft wurden.
Perón hat seine ideologische Identität im Laufe seines Lebens grundsätzlich geändert. Ursprünglich war er ein waschechter Faschist, der Mussolini bewunderte, was er stets hervorhob. Der Justizialismus war im Wesen eine Partei der Industriearbeiter. Perón hat in seiner ersten Regierung öffentliche Dienste verstaatlicht und die Rolle des Staates in der Wirtschaft verstärkt, mit einer Intervention, die sehr in Einzelheiten ging. Doch als er 1973 zum dritten Mal Präsident wurde, dachte er anders und hielt sich eher an das Vorbild des damaligen Europa. In einem letzten Vortrag sagte er: „Die Staatsunternehmen haben uns nur Unannehmlichkeiten bereitet, und ich wünsche, dass die Herren Unternehmer sie alle übernehmen.“ Kategorischer konnte er seine ideologische Wende nicht ausdrücken.
Néstor und Cristina verblieben jedoch beim ersten Perón und siedelten sich noch weiter links an. Dabei war Néstor pragmatischer und Cristina ideologischer. Doch jetzt weiß sie selber auch nicht, wo sie steht. Abgesehen davon, dass sie ihre Prozesse in den Vordergrund stellt und auch die Wirtschaftspolitik davon abhängig macht, weiß sie nicht, wohin sie geht. Sie ist mit der Ideologie und der Predigt des verstorbenen Hugo Chávez einverstanden, aber nicht mit dem konkreten Ergebnis. Was sie vor ein Rätsel stellt. Sie nimmt gegen die Vereinigten Staaten Stellung, rebelliert gegen den Internationalen Währungsfonds, muss jedoch inzwischen begriffen haben, dass Argentinien ohne Fonds und ohne die USA in den Abgrund fällt und sie dabei mitreißt. Denn dumm ist sie nicht.
In der Regierungskoalition bestehen verschiedene ideologische Gruppen. Einige befürworten einen gemäßigten Kurs, etwa wie es einem sozialdemokratischen Schema entspricht, andere treten für mehr Staat ein, mit Verstaatlichungen und extremer Intervention, und andere wollen direkt auf eine kommunistische Wirtschaft übergehen, etwa wie seinerzeit in Jugoslawien, wo nur ein Spielraum für die Privatwirtschaft bei kleineren Unternehmen und Personen verblieb.
Präsident Fernández ist sich bewusst, dass ein baldiger Abschluss mit dem IWF unerlässlich ist. Das haben ihm, direkt oder unterschwellig, sowohl die Präsidenten, die er letzte Woche aufgesucht hat, als auch der Papst und Cristalina Georgiewa zu verstehen gegeben. Auch ein Zahlungsaufschub des Pariser Klubs hängt davon ab. Doch Cristina hat sich dem so energisch widersetzt, dass er ihr schwer fällt, jetzt zuzustimmen. Außerdem steht sie unter dem Druck extremer Gruppen in der Cámpora, die sie nicht brüskieren will. Sie, Alberto und andere leitende Politiker ihrer Koalition müssten klären, wo sie ideologisch stehen, und das fällt diesen ohnehin konfusen Geistern besonders schwer.
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