Von Juan E. Alemann
Wie wenn nicht schon eine ausreichende Ungewissheit bestünde, um die Wirtschaft stillzulegen, hat die Regierungskoalition dies jetzt noch durch ihre eigenen Widersprüche und interne Streitigkeiten ins Extrem getrieben. Die Regierung ist in viele Fraktionen aufgeteilt: einmal die von Cristina und die von Alberto, dann Kirchneristen gegen treue Altperonisten, dann Gewerkschafter gegen die sogenannten Piqueteros, die die Schwarzwirtschaft und besonders das Lumpenproletariat vertreten (das ursprünglich zu den Gewerkschaften gehörte und von Péron als “die Hemdlosen” (“los descamisados”) benannt wurde. Es gibt keine ideologische Führung, und jeder interpretiert den Willen der Regierung auf seine Weise. Dabei gibt es auch differenzierte Interessen: einem legalen Arbeitnehmer geht es um die Erhaltung seines Arbeitsplatzes und der Möglichkeit, im Unternehmen aufzusteigen, einem Arbeitslosen darum, einen Arbeitsplatz zu erhalten. Die legalen Arbeiter sehen die Schwarzarbeiter als eine Gefahr für ihre Unternehmen und ihre Arbeitsplätze, und die Schwarzarbeiter wollen nicht belästigt werden und ihre Einkommensquelle behalten.
Allein, grundsätzlich handelt es sich in der Regierung um zwei entgegengesetzte Auffassungen. Präsident Alberto Fernández und Kabinettschef Juan Luis Manzur unterstützen Wirtschaftsminister Martín Guzmán in seiner Bemühung, ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds zu erreichen, das Defizit der Staatsfinanzen zu verringern und die Geldschöpfung einzudämmen. Doch Cristina denkt grundsätzlich anders. Abgesehen davon, dass sie mit Geschenken Stimmen gewinnen will, hat sie ein grundsätzlich anders Konzept der Wirtschaftspolitik, bei dem sich ihr jugendlicher Marxismus mit dem Hyperkeynesianismus von Axel Kicillof mischt. Das bedeutet, Schaffung von Nachfrage durch Geldemission auf der einen Seite, und extreme Preiskontrollen auf der anderen, so dass der Geldüberhang sich nicht auf die Preise, sondern auf die nachgefragten Mengen auswirkt. Der neue Handelssekretär Roberto Feletti hat dies klar zum Ausdruck gebracht, als er sagte, die Unternehmer können jetzt durch einen höheren Mengeverkauf und eine höhere Auslastung ihrer Kapazitäten den Schaden ausgleichen, den sie durch die Einfrierung der Preise erlitten. Eine Phantasie!
Was die Beziehungen zum IWF betrifft, so gehen Cristina und ihre Mannschaft davon aus, dass die Schuld von u$s 44 Mrd. ohnehin unbezahlbar ist, und wenn, bestenfalls in 20 Jahren, was beim Fonds nicht vorgesehen ist. Der IWF leiht höchstens bis auf 10 Jahre (“Extended facilities”). Da es gemäß dieser Anschauung bei Abzahlung der Schuld in 10 Jahren ohnehin zum Default kommt, ist es besser ihr sofort zu erklären, und dann sehen, wie der Fall weitergeht. Die Kirchneristen erinnern daran, dass der Default von 2001/21 erst Mitte 2005 teilweise geregelt wurde, wobei in der Periode 2001-2005 die Wirtschaft wuchs, die Beschäftigung stieg und der Reallohn sich erholte. Dass dann 2010 eine zusätzliche Zahlung erfolgte, und schließlich die Macri-Regierung u$s 18 Mrd. zahlen musste, die die US-Justiz den Holdouts anerkannt wurde, wird nicht erwähnt.
Die Kirchneristen und auch viele andere haben den Fall grundsätzlich nicht verstanden. Und weder die Regierung noch die Opposition, noch die unabhängigen Ökonomen, die ihre Meinung äußern, erklären ihn. Das tun nur wir. Die Staaten zahlen grundsätzlich ihre Schulden mit Aufnahme neuer Schulden. Dabei nimmt die Gesamtschuld meistens weiter zu, aber ausnahmsweise tritt auch eine Verringerung ein. Die bestehende Auslandschuld, gegenüber dem Fonds und den Investmentfonds, kann nicht in 10 Jahren vollständig abgebaut werden. In diesem Punkt haben die Kirchneristen recht. Aber die Rechnung soll eben durch Aufnahme neuer Kredite (und Kapitalinvestitionen) aufgehen. Gewiss ist Argentinien für längere Zeit vom internationalen Finanzmarkt ausgeschlossen. Aber einmal kann das Land langfristige Kredite der Weltbank, der interamerikanischen Entwicklungsbank, der Andenkörperschaft, der chinesischen Förderungsbank u.a. Förderungsbanken erhalten. Im Haushaltsprojekt für 2022 sind u$s 11 Mrd. an Krediten dieser Art vorgesehen. Hier muss man sich nur darum kümmern, dass die argentinische Schlamperei nicht störend wirkt. Es müssen konkrete Projekte im Überschluss ausgearbeitet werden, mit entsprechenden technischen Studien, so dass die Förderungsbanken dann nicht von Null an beginnen müssen, und unter mehreren Projekten, die besten wählen können. Die Regierung muss für diesen Zweck eine Studienzentrale im Wirtschaftsministerium haben, wie sie in früheren Zeiten schon bestand,
Hinzu kommen dann noch Kredite für Finanzierung von Kapitalgüterimporten. Deutschland an erster Stelle, aber auch Italien u.a. Länder sind große Exporteure von Maschinen und Anlagen, die nur mit Begleitung von Krediten möglich sind. Diese Länder haben somit ein Interesse, diese Kredite zu gewähren, und Argentinien muss wissen, dies zu nutzen, indem zunächst die Beziehungen zum Pariser Klub gepflegt werden. Denn es können keine neuen Kredite dieser Art gewährt werden, wenn die alten nicht bezahlt werden. Man kann somit gesamthaft mit jährlichen Krediten von über u$s 15 Mrd. rechnen, mit denen zahlungsbilanzmässig die Zahlungen der Altschulden gedeckt werden. Und im Budget werden damit Investitionen finanziert, was bedeutet, dass der Teil des Defizites, der sich auf diesen Bereich bezieht, finanziert wird und kein Problem darstellt.
Wenn der Präsident sich nicht bemüht, all dies eingehend zu erklären, direkt oder über seinen Kabinettschef oder seinen Wirtschaftsminister, kann die Panikstimmung nicht überwunden werden. Und wenn Cristina dann gelegentlich noch dazwischenfunkt und unterschwellig die These vertritt, dass es so oder so zum Default kommen wird, der für das Land eine Wartepause bedeutet, in der andere Probleme angegangen werden können, dann kommt die Wirkung der selbsterfüllenden Prophezeiung hinzu. Und dann verbleibt nur noch, dass der Letzte das Licht löscht.
Bis zu den Wahlen am 14. November kann man nicht erwarten, dass die Regierung sich an das hier dargestellte Problem heranmacht. Dabei wird der Regierung auch viel verziehen, was wahlpolitisch bedingt ist. Aber unabhängig davon, ob es der Regierung besser oder schlechter als am 12. September geht, sollte es eine grundsätzliche Definition geben, die eine realistische und positive Zukunftsaussicht bietet.
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