Von Juan E. Alemann
Um eine Lösung für die argentinische Dauerkrise zu finden, muss die neue Regierung, die am 10. Dezember 2019 antritt, ganz abgesehen von ihrer politischen Grundrichtung, die komplexen Eigenarten der Wirtschaft dieses widerspruchsvollen Landes verstehen. Ein US-Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Simon Kuznets, sagte vor Jahrzehnten schon, es gäbe entwickelte und unterentwickelte Länder, und dazu kämen zwei Ausnahmen, die sich nicht in die allgemeinen Regeln einreihen: 1. Japan, das hochentwickelt sei, ohne über natürliche Ressourcen zu verfügen, und bei einem Übergang zu einem modernen Kapitalismus, der erst vor kurzem eingesetzt hat. 2. Argentinien, das mit hohen und vielfältigen natürlichen Ressourcen ausgestattet sei, mit einer ausgebildeten und intelligenten Bevölkerung zähle, und formell ein institutionelles System wie hochentwickelte Länder habe, und dennoch stark zurückgeblieben sei.
Zu den traditionellen natürlichen Ressourcen, die auf der Produktion von Getreide und Ölsaat und der Rinderzucht in der sogenannten “feuchten Pampa” zu sehr günstigen Bedingungen beruht, und auch in ebenfalls günstigen Bedingungen für Forstwirtschaft, Produktion von Kern- und Zitrusobst, von Oliven u.a Produkten, ist in den letzten drei Jahrzehnten noch ein leistungsfähiger Bergbau hinzukommen, mit Förderung von Kupfererz, Gold und jetzt noch Lithium, das einer hohen und zunehmenden Nachfrage entgegensieht, und in wenigen Ländern erzeugt wird. Hinzu kommt jetzt noch das Schiefergas- und Erdöllager Vaca Muerta, das ein riesiges Produktionspotential auf Jahrzehnte hinaus aufweist, und zu einem Zeitpunkt entdeckt wurde, als die traditionellen Erdöl- und Gaslager sich zunehmend erschöpften. Wieder Glück gehabt! Und schließlich sollte man den Fischfang auf der immensen Meeresplattform im Südatlantik nicht vergessen. Kein anderes Land ist so großzügig und vielfältig mit natürlichen Ressourcen ausgestattet wie Argentinien.
Auch was menschliche Ressourcen betrifft, steht Argentinien im internationalen Vergleich gut dar. Die Bevölkerung ist zum allergrößten Teil europäischen Ursprungs, so dass es schwer verständlich ist, warum sie hier weniger erfolgreich war als in Europa. Argentinien hat die allgemeine Alphabetisierung der Bevölkerung früher begonnen, als Süditalien und Spanien, und hat seit Langem faktisch keine Analphabeten mehr. Die Zahl derjenigen, die Kindergarten, Primarschule, Sekundarschule, Universitäten und andere Erziehungsinstitute besuchen, liegt über 30% der Bevölkerung, etwa gleich viel wie in fortgeschrittenen Staaten. Und jetzt weist Argentinien auch eine zunehmend hohe Zahl von Menschen auf, die auf dem Gebiet der neuen Computertechnologie hervorragend ausgebildet und sehr talentiert sind, und ihre Dienste auch in hohem Umfang exportieren, in Konkurrenz zu anderen Staaten.
Argentinien sollte somit ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wie fortgeschrittene Staaten haben, zumindest wie Kanada und Italien. Das ist nicht der Fall, und die Differenz hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen.
Im 19. Jahrhundert kamen unzählige Einwanderer aus Europa, nach Argentinien, und bis Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte dies an, wenngleich nicht so intensiv. Jetzt wandern Argentinier massenweise aus, und es gibt schon über 3 Mio. Argentinier in den USA, in Spanien u.a Ländern, die mit Familien und Kindern über 5 Mio. ausmachen. Gleichzeitig hat eine große Einwanderung aus lateinamerikanischen Staaten eingesetzt, zuerst aus Paraguay und Bolivien, dann auch aus Peru u.a. Staaten, und in letzter Zeit besonders aus Venezuela. Argentinien hat somit gut ausgebildete Menschen “exportiert”, die das Land viel gekostet haben, und, mit Ausnahme der venezolanischen Einwanderer, von denen viele Akademiker und Fachleute sind, vorwiegend Menschen mit einem niedrigen kulturellen Niveau importiert. Gewiss ein zweifelhaftes Geschäft.
Zu diesen grundsätzlichen Eigenarten der argentinischen Gesellschaft kommen noch mehrere andere, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet, hinzu. Halten wir fest:
Die hohe Inflation, die 1945 sanft eingesetzt hat, dann jahrelang zwischen 20% und 30% lag, 1959 und 1975 dreistellig wurde, und auch drei Hyperinflationswellen aufwies, mit Höhepunkten jeweils im März 1976, 1989 und 1990, ist eine weltweit einzigartige Erscheinung. Die erste Hyperinflation, bei der die Preise 50% in einem Monat stiegen (was als Hyperinflation definiert wird), wird von den Wirtschaftlern allgemein ignoriert, eben weil sie sehr kurz war. Stabilität gab es nur 1952 und dann von Mitte 1991 bis Ende 2001. Keine Regierung freut sich über die Inflation. Doch die Präsidenten und ihre Wirtschaftsminister (oder Schatzminister) wissen eben nicht, wie sie das Problem anpacken sollen. Nur Menem ist dies gelungen. Chapeau! Wenn sich die Regierung nicht der Komplexität des Inflationsphänomens bewusst ist, und es auch politisch nicht versteht, kann man nicht erwarten, dass es ihr gelingt, die Inflation zu senken, zunächst auf eine einstellige Zahl. Mauricio Macri dachte, das Problem sei viel einfacher als es wirklich ist, und das kam ihm (und uns) teuer zu stehen. Alberto Fernández scheint sich zumindest bewusst zu sein, dass es sich um ein schwieriges Thema handelt.
Argentinien hat eine anormal hohe Schwarzwirtschaft und eine entsprechend hohe schwarze Beschäftigung, die laut INDEC etwa ein Drittel der Beschäftigten umfasst. Die Schwarzwirtschaft hat einen Anteil von etwa 40% am BIP, wobei auch viele Unternehmen, die legal eingetragen sind, einen Teil ihrer Geschäfte schwarz abwickeln.
Damit hängt auch die hohe Armut zusammen, die laut INDEC über ein Drittel der Bevölkerung umfasst. Das ist bei den Bedingungen, die die argentinische Wirtschaft bietet, anormal. Unter der Militärregierung (März 1976 bis Ende 1983) lag dieser Koeffizient bei 10%, und jetzt ist Argentinien gesamthaft reicher als damals.
Argentinien hat eine hohe Steuerhinterziehung, die sich auf die Einkommenssteuer (Gewinnsteuer) von natürlichen Personen und Kleinunternehmen konzentriert, dann bei der Vermögenssteuer (Steuer auf persönliche Güter) stark auftritt, und schließlich beim Zoll einen hohen Umfang erreicht. Bei der MwSt. ist es dank Informatik gelungen, die Hinterziehung von zeitweise zwei Dritteln auf ein Drittel des theoretischen Betrages zu verringern, bei den Brennstoffsteuern wird kaum hinterzogen, bei der Schecksteuer überhaupt nicht, und bei den Exportsteuern u.a. Steuern wenig. Die Sätze der Einkommenssteuer sind sowohl bei natürlichen Personen wie bei Unternehmen in Argentinien höher als in den Vereinigten Staaten, aber der Erlös der Steuer im Verhältnis zum BIP liegt bei einem Drittel. Das erklärt sich nur durch die anormal hohe Hinterziehung.
In Argentinien ist der Bankkredit minimal. Bei Krediten an Unternehmen sind es keine 10% des BIP. In vergleichbaren Ländern liegt dieser Kredit über 50% des BIP, und in fortgeschrittenen Staaten ist es viel mehr. Der Umfang der Wucherkredite, bei dem die Zinsen gegenwärtig über 100%, gelegentlich bis zu 150%, liegen ist viel höher als der Bankkredit, was es sonst auf der Welt nirgends gibt. Das Fehlen eines Kreditsystems, das einen normalen Bestandteil einer Marktwirtschaft darstellt, stellt eine große Hemmung für die Wirtschaft dar. Dies führt auch dazu, dass das Steueramt als Kreditgeber auftritt, mit Moratorien am laufenden Band, und dabei die Rolle der Banken übernimmt. Ohne diese Haltung, die unlängst wieder offen zum Ausdruck gekommen ist, würden jetzt noch viel mehr Unternehmen schließen müssen. Auch das gibt es sonst auf der Welt nirgends.
Argentinien hat ein bimonetäres System, mit dem lokalen Peso und dem US-Dollar. Der Peso wird für die täglichen Transaktionen eingesetzt, der Dollar dient zur Wertmessung bei Immobilien u.a. Objekten, für Kreditgeschäfte und Transaktionen, die sich einem bestimmten Zeitraum abwickeln, und ganz besonders als Sparmittel. Das ist einfach eine Tatsache, die eine logische Folge der chronischen Inflation und des wiederholten Betruges an den Sparern ist. Das bimonetäre System wurde in den 90er Jahren von Wirtschaftsminister Cavallo auch formell anerkannt, indem Zahlungen in Dollar legal erfolgten (ohne sie in Pesos ausdrücken zu müssen, wie es jetzt der Fall ist), Girokonten in Dollar zugelassen wurden, und das Bankensystem weitgehend auf Sparkonten in Dollar und Dollarkredite (besonders bei Hypothekarkrediten) überging. Das hat gut funktioniert, bis es unter Präsident Eduardo Duhalde mit einem Schlag vernichtet wurde. Selten gab es eine so unverantwortliche und schädliche Regierungsentscheidung wie diese. Jetzt muss man sich bemühen, den Dollar als formellen Teil des Währungssystems wieder einzuführen. Es ist die einzige Möglichkeit, wieder ein normales Kreditsystem zu haben.
In Argentinien wurde die Staatsquote unter den Kirchners von ca. 30% des BIP auf über 45% erhöht. Macri hat sie jetzt auf ca. 40% gesenkt, was auch noch zu viel ist, und nur durch Verringerung des Reallohnes der Staatsangestellten und Erhöhung der Tarife öffentlicher Dienste (mit entsprechender Verringerung der Subventionen) gelungen ist. Die hohen Staatsausgaben sind fest verankert, mit Indexierung des Rentensystems, Beamtenstabilität und Privilegien bei Justizbeamten u.a. Der argentinische Staat ist zudem sehr ungeordnet, und bietet keine entsprechenden Dienstleistungen. Somit ist gleichzeitig ein bedeutender Teil der Erziehung und der Gesundheitsbetreuung privat, und auch besteht ein ausgedehnter privater Sicherheitsdienst. Es ist somit nicht wie in Schweden, wo die Staatsquote höher ist, aber der Staat gute öffentliche Dienste, auch eine gute Erziehung und Gesundheitsbetreuung bietet, und für Sicherheit sorgt, und es kaum Steuerhinterziehung gibt, so dass sich die Steuerlast besser verteilt. In Argentinien verträgt sich die Mischung von Marktwirtschaft und Sozialismus schlecht, und schafft allerlei ungelöste Probleme.
Argentinien hat sehr starke Gewerkschaften und eine schwache Unternehmerschaft, die außerdem in Inflationskategorien denkt und somit bei den Forderungen nachgiebig ist, und sich nur bemüht, höhere Arbeitskosten auf Preise abzuwälzen oder direkte oder verkappte Subventionen (u.a. durch weiche Kredite) zu erhalten. Die Politisierung der Gewerkschaften macht das Problem noch schwieriger. Perón hat schon vor 1946 seine Macht auf den Gewerkschaften aufgebaut, die er offen als das Rückgrat seiner politischen Bewegung betrachtete. Dies ist noch heute verhängnisvoll, und kein Politiker wagt es, eine grundsätzliche Reform vorzuschlagen, die die Gewerkschaften entmachtet.
Schließlich hat Argentinien ein schwaches Rechtsystem. Formell ist das System nicht anders, als in hochentwickelten Staaten. Aber der Einfluss von Politik und die Korruption ist hier sehr groß. Hinzu kommt noch eine phänomenale Schlamperei, mit absurder Verlängerung der Prozesse. In einer modernen Wirtschaft stellt all dies einen Störungsfaktor erster Ordnung dar.
Wenn man alle diese Eigenarten der argentinischen Wirtschaft nicht wahrnimmt, und dann auch bei der Gestaltung der Wirtschaftspolitik berücksichtigt, bleibt der Erfolg aus. Dessen muss sich die Regierung bewusst sein. Und auch der Internationale Währungsfonds sollte sich bemühen, dies zu begreifen und Argentinien nicht wie ein normales Land zu behandeln. Denn gerade das ist es nicht.
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