In der modernen Welt verschulden sich die Staaten, und zahlen in der Regel ihre alten Schulden mit der Aufnahme von neuen. Verringerungen der Staatsschuld sind selten, und beruhen auf außerordentlichen Umständen, wie ein anormaler Überschuss der Leistungsbilanz und des Staatshaushaltes. Bei der Verwaltung der Staatsschuld bestehen ungeschriebene Regeln, was sich an erster Stelle auf die Einhaltung der verpflichteten Bedingungen bezieht, und dann darauf, dass der Schuldbetrag nicht davonspringt. Japan hat eine Staatsschuld von über doppelt soviel wie das Bruttoinlandsprodukt, und Italien, Griechenland u.a. Länder liegen nicht weit davon entfernt. Ohnehin haben die pandemiebedingten Zusatzausgaben weltweit zu hohen zusätzlichen Schulden geführt, so dass jetzt Verschuldungskoeffizienten von über 100% und 150% des BIP als normal erscheinen werden.
Die große Welt lebt seit über einem Jahrzehnt mit extrem niedrigen Zinsen, was sogar in Negativzinsen bei bestimmten Depositen zum Ausdruck kommt. In den Vereinigten Staaten liegt die Rendite der Schatzscheine auf 10 Jahre (benannt “Treasuries”) unter der jährlichen Inflation, die keine 2% erreicht. In der EU ist es ähnlich. Doch in Wirklichkeit ist die Inflation in beiden Fällen etwas höher, weil bei der Methodologie ein wenig gemogelt wird, so dass die bestehende Staatsschuld der USA und der EU-Staaten real schrumpft. Die hohen Verschuldungen der Staaten zwingen die USA und die EU, die niedrigen Zinsen beizubehalten. Hohe Zinsen, wie sie früher bestanden, wären bei dieser Konstellation eine Katastrophe. Argentinien ist noch weit entfernt davon, von diesen niedrigen Zinsen zu profitieren. Deshalb ist die Verschuldungsproblematik hier viel komplexer.
Prinzipiell sollten sich die Staaten nur verschulden, um Investitionen zu finanzieren, und nicht um Defizite auszugleichen, die auf laufenden Ausgaben beruhen. In Deutschland darf das Defizit des Staatshaushaltes laut Gesetz den Betrag der Staatsinvestitionen nicht übersteigen, abgesehen davon, dass die EU seinerzeit in Maastricht vereinbart hat, dass das gesamte Defizit nicht über 3% des Bruttoinlandsproduktes liegen darf. In der Finanzkrise von 2009 wurde dies nicht ganz ernst genommen. Und jetzt dürften diese Grenzen wohl noch weniger eingehalten werden. Doch Ausnahmen sind Ausnahmen, und wenn sich die Lage wieder normalisiert, dann gelten die Grundregeln wieder voll. Dann wird man auch sehen müssen, wie man mit dem neuen Schuldenberg zurechtkommt.
In Argentinien hat jetzt der Senat beim Gesetzesprojekt, das bestimmt, dass die staatliche Auslandsverschuldung und die IWF-Programme mit der Zustimmung des Kongresses zählen müssen, einen Artikel hinzugefügt, gemäß dem die Dollarverschuldung nicht für Deckung laufender Ausgaben eingesetzt werden darf, also nur für Investitionen. Doch dann wurde eine Ausnahme für außerordentliche Ausgaben hinzugefügt, wie sie anlässlich der Pandemie entstanden sind. Doch grundsätzlich werden ab jetzt neue Schulden aufgenommen, um alte zu zahlen, so dass sich dies nur auf eine zusätzliche Staatsverschuldung bezieht. Es ist auf alle Fälle positiv, das Defizit der Staatsfinanzen mit den Staatsinvestitionen in Beziehung zu bringen.
In Argentinien liegt die Staatsschuld (ohne die der Provinzen) leicht unter u$s 350 Mrd., was angeblich etwa 90% des Bruttoinlandsprodukts (oder so ähnlich) entspricht. Doch in Wirklichkeit ist das BIP höher, wobei der Dollarbetrag auch davon abhängt, ob man den effektiven Wechselkurs nimmt (welchen?) oder einen theoretischen Kurs, der sich aus der Kaufkraftparität der lokalen Währung, des Peso, mit dem Dollar ergibt. Und bei einem höheren BIP wäre der Koeffizient von Staatsschuld zu BIP niedriger.
Warum tanzt Argentinien aus der Reihe, mit einer ständigen Defaultgefahr, während andere Staaten mit einem höheren Verschuldungskoeffizienten kein Problem darstellen? Der Unterschied besteht darin, dass diese anderen Staaten ihre Schuld verwalten, mit einem langfristigen Schema, so dass sie sich kontinuierlich und rechtzeitig um die Aufnahme neuer Schulden bemühen, um die Amortisation der alten auszugleichen. Man muss somit als erstes eine langfristige Schuldenplanung haben. Wirtschaftsminister Martín Guzmán geht in diese Richtung, wenn er von “Haltbarkeit” (“sustentabilidad”) spricht, und das ist positiv.
Als zweites sollte beim Staatshaushalt zwischen der Finanzierung von Investitionen und laufender Ausgaben unterschieden werden. Wenn die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank u.a. Banken Investitionsprojekte finanzieren, handelt es sich um etwas grundsätzlich anderes als um Kredite, mit denen laufende Ausgaben gedeckt werden. Wenn man die deutsche Regel anwenden und in diesem Sinn vom Gesamtdefizit den für Investitionen bestimmten Betrag abziehen würde, dann sähe der Fall prinzipiell anders aus.
Grundsätzlich geht es darum, dass seriös vorgegangen wird. Was unter der Regierung von Cristina geschehen ist, mit Missachtung von Urteilen von US-Richtern und beleidigenden Äußerungen über die Richter, sollte in Zukunft nicht wiederholt werden. Die Regierung muss sich streng an die Rechtsordnung halten, die für die internationale Finanzwelt gilt, und die Probleme durch vernünftige Verhandlung lösen. Dann wird das ganze Thema entschärft.
Ebenfalls sollte man vermeiden, das Thema intern zu politisieren, wie es Minister Guzmán unlängst getan hat, als er die Aufnahme des IWF-Kredites von netto u$s 44,15 Mrd. durch die Macri-Regierung kritisierte, weil das Geld schließlich nur die Kapitalflucht finanziert habe. Guzmán sagte dabei, dass mit dem IWF-Kredit die Infrastruktur des Landes hätte erneuert werden können. Das stimmt alles einfach nicht.
Der letzte Wirtschaftsminister der Macri-Regierung, Hernán Lacunza, der großes Ansehen als seriöser Ökonom genießt, antwortete Guzmán mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass u$s 25,29 Mrd. für Zahlung von Schulden eingesetzt worden seien, die unter der Regierung von Cristina aufgenommen wurden und damals nach und nach verfielen. Weitere u$s 6,07 Mrd. wurden für Zinsen auf die auf Dollar lautende Staatsschuld aufgewendet. Das macht 71% des Gesamtbetrages aus. Der Rest wurde für andere Zwecke eingesetzt, besonders Deckung des Defizites, das auf Staatsinvestitionen beruht.
Der IWF-Kredit hat einen Default vermieden, weil die Gläubiger befürchteten, dass eine eventuelle zukünftige Regierung von Cristina sie so schlecht behandeln würde, wie sie seinerzeit die Inhaber argentinischer Staatstitel behandelt hatte. Diese Furcht kam bei den PASO-Wahlen vom August 2019 deutlich zum Ausdruck. Die Präsenz von Cristina bei der gegenwärtigen Regierung wirkt auch jetzt negativ. Sie müsste sich jetzt im entgegengesetzten Sinn als bisher äußern. Kann sie über ihren Schatten springen?
Was die Kapitalflucht betrifft, so habe sie (in Dollar zu konstantem Wert) laut Lacunza zwischen 2007 und 2011 (erste Regierung von Cristina) u$s 69 Mrd. ausgemacht, und von 2015-2019 (Macri-Regierung) u$s 72 Mrd., also nicht viel mehr. In der zweiten Amtszeit von Cristina (2011-2015) war die Kapitalflucht viel geringer, weil eine Devisenbewirtschaftung eingeführt wurde, mit Kontingenten für den Kauf von Dollar für Hortung oder unbestimmte Zwecke. Was Guzmán im Grunde der Macri-Regierung vorwirft, ist, dass sie dies aufgehoben hat.
Hier sollte man etwas weiter denken, als es Guzmán und Lacunza getan haben. Der Kauf von Dollar wird zwar als Kapitalflucht gebucht, ist aber im Grunde zum allergrößten Teil nur ein Übergang vom Peso auf den Dollar bei der Liquiditätshaltung. In einem Inflationsland wie Argentinien wird weitgehend in Dollar gespart, um den Wert der Ersparnisse zu erhalten. Das ist etwas anderes als Kapitalflucht, umso mehr als diese gesparten Dollar zum großen Teil in Argentinien ausgegeben oder investiert werden, besonders für den Kauf von Immobilien. In diesem Sinn sollte der Devisenmarkt aufgeteilt werden, in einen Markt für den Außenhandel u.a. normale Geschäfte und einen anderen für Kapitaltransaktionen und Tourismus. An eine Vereinheitlichung kann man erst denken, wenn die Inflation gebändigt ist und die Bevölkerung ihre Liquidität in Pesos hält. Ohnehin nimmt die Liquiditätshaltung in Pesos bei geringer Inflation sofort zu, weil der Übergang auf den Dollar, hin und zurück, mit hohen Kosten verbunden ist, die im Gewinn der Makler bestehen.
Zurück zur Staatsschuld. Lacunza wies darauf hin, dass die Staatsschuld im März 2018 (Macri-Regierung) u$s 328 Mrd. betrug, und im Dezember 2019 auf u$s 311 Mrd. zurückgegangen war. Beim Kredit vom IWF wurden niedrigere Zinsen gezahlt, als bei den vorangehenden Krediten, die abgezahlt wurden. Außerdem wurden mit dem Fondskredit auch öffentliche Investitionen finanziert. Lacunza sprach auch von Defizitfinanzierung, und wies darauf hin, dass die Regierung von Cristina mit einem Defizit von 8% des BIP geendet habe, das die Macri-Regierung Jahr für Jahr gesenkt habe.
Die Problematik der Staatsschuld sollte als ein überparteiliches Thema behandelt werden, da es den Staat und die Wirtschaft des Landes betrifft, unabhängig von der jeweiligen Regierung. Guzmán sollte mit Lacunza und/oder anderen Wirtschaftern der Opposition, auch mit eigenen und unabhängigen über die Verschuldungspolitik reden. Die Gläubiger müssen überzeugt werden, dass Regierung und Opposition sich darin einig sind, dass die weltweit geltenden Spielregeln eingehalten werden und die Staatsschuld verwaltet wird, so dass die Defaultgefahr ausgeschlossen ist. Misstrauen zahlt Argentinien mit hohen Zinsen. Das neue Gesetz, das in der Vorwoche verabschiedet wurde, das die Zustimmung des Parlaments bei Auslandsverschuldung vorsieht, geht in diese Richtung.
Comments