Wie steht es nach einem Jahr EU-Ausstieg?
London (dpa) - Hört man Boris Johnson zu, haben sich alle Brexit-Erwartungen erfüllt. Handelsverträge mit 70 Staaten, unsinnige EU-Bürokratie abgeschafft, eine rasante Corona-Impfkampagne hingelegt sowie ein Einwanderungssystem für die klügsten Köpfe ausgetüftelt. Dies seien die zentralen Errungenschaften des EU-Austritts, so Johnson an Neujahr. Doch Experten schütteln den Kopf.
„Seine Vermeidung der vielen Schwierigkeiten, Knackpunkte und Kosten deutet darauf hin, dass Großbritannien noch weit von einer ausgewogenen und wohlüberlegten Debatte über die Gestaltung der Beziehungen zur EU entfernt ist“, sagte der Politologe Simon Usherwood von der Open University der Deutschen Presse-Agentur. Eine Bestandsaufnahme.
Handel: Von den Verträgen, die der Premier nun so hervorhebt, ist bisher nur ein Deal mit Australien völlig neu ausgehandelt, ein weiterer mit Neuseeland steht bevor. Die übrigen spiegeln letztlich die EU-Kontrakte. Das wichtigste Vorhaben - ein Freihandelsabkommen mit den USA - ist in weiter Ferne.
Bürokratie: Einige Branchen profitieren in der Tat, wie ein Diplomat eines EU-Landes in London anerkennt. Autonomes Fahren oder Künstliche Intelligenz seien zwei Bereiche, in denen ohne strikte EU-Regeln nun mehr Möglichkeiten bestünden. Aber: „Das sind nur Nischen.“ Tatsächlich hat die Bürokratie zugenommen, bereits seit einem Jahr ist der Handel wegen notwendiger Dokumentation schwieriger geworden.
Verbraucher: Der Großteil frischer Lebensmittel stammt aus der EU, Regale blieben leer. Seit dem Brexit ist es wegen teurer Arbeitsvisa schwieriger für Fachkräfte, ins Land zu kommen. Das betrifft viele Branchen, in denen bisher vor allem EU-Bürger arbeiteten - von Transport über Fleischverarbeitung bis zur Gastronomie.
Migration: Klasse statt Masse strebt Innenministerin Priti Patel an. Die ungehinderte Freizügigkeit will Patel stoppen, stattdessen sollen die klügsten Köpfe kommen. Doch gab es auf ein neues Sondervisum für wissenschaftliche Preisträger bisher keine Bewerbung.
Konjunktur: Noch überschattet die Pandemie viele Brexit-Sorgen. Eine klare Einschätzung, inwiefern der EU-Austritt verantwortlich ist für leere Kassen und enorme Steuererhöhungen, steht noch aus. Die Aufsichtsbehörde Office for Budget Responsibility (OBR) kommt aber zu dem Schluss, der EU-Austritt werde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4 Prozent verringern, das ist doppelt so viel wie die Pandemie.
Nordirland: Noch immer gibt es keine Einigung über den Status der Provinz, die de facto weiterhin den Regeln der EU-Zollunion folgt. Das soll eine harte Grenze zum EU-Mitglied Irland und neue Konflikte in der früheren Bürgerkriegsregion vermeiden. Doch tatsächlich ist eine innerbritische Zollgrenze entstanden. Das ist London ein Dorn im Auge, weshalb Johnson die selbst vereinbarte Abmachung neu verhandeln will. Nicht ins Bild passt für Johnson dabei, dass die aktuelle Regelung der nordirischen Wirtschaft einen Boom beschert hat. Weil Unternehmen problemlos mit Großbritannien und der EU handeln können, haben sie einen Vorteil gegenüber ihren britischen Konkurrenten.
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