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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Die Armutsproblematik sollte nicht politisiert werden

Von Juan E. Alemann

Wie immer man die Armut definiert, in Argentinien besteht eine hohe Armut, die nicht sein sollte, zumindest nicht in seinem gegenwärtigem Ausmaß, das sich nicht mit dem Wohlstand zusammenreimt, den man sonst im Land beobachtet, der in den vielen guten Wohnungen, den zahlreichen ziemlich neuen Automobilen und Motorrädern, und vielen anderen Erscheinungen zum Ausdruck kommt. Die Armut wird von der statistischen Zahl übertrieben, dramatisiert und stark politisiert. Wie üblich, wird das Thema als eine Schuldfrage aufgefasst, für das die jeweilige Regierung oder die Politiker einer Partei, oder die Reichen, oder so ungefähr alle, verantwortlich gemacht werden.

Es fällt auf, dass über die Natur der Armut und konkrete Lösungsmöglichkeiten bei Bekanntgabe der Armutszahlen für Ende 2020 nichts gesagt wurde, weder von Regierungssprechern, noch von der Opposition. Alle machen direkt oder unterschwellig die Überwindung dieser tragischen Lage vom Wachstum der Wirtschaft abhängig, womit sie im Grunde zugeben, dass das Problem auf Jahre hinaus keine Lösung hat.


Fangen wir jetzt von vorne an. Das INDEC stuft Familien (mit 2 minderjährigen Kindern) als arm ein, die ein Monatseinkommen von unter $ 50.854 aufweisen. Das ermittelte Durchschnittseinkommen der als arm eingestuften Familien lag Ende 2020 bei $ 29,567. Bei diesem Einkommen werden auch das Kindergeld u.a. soziale Zuschüsse dazugerechnet, so dass die Lage ohne staatliche Hilfe noch viel schlimmer wäre. Doch Naturaleinkommen (eigenes Gemüse, Fischfang usw.) und Gelegenheitseinkommen werden nicht berücksichtigt. 57,7% der Armen entfallen auf Personen von bis zu 14 Jahren, und 3,2% auf Personen mit über 65 Jahren. Regional aufgeteilt liegt die höchste Armutsrate in der Stadt Resistencia, Provinz Chaco, mit 53,6%, und die niedrigste in der Bundeshauptstadt mit 16,5%. Innerhalb der Armen entfallen 4,7 % der Bevölkerung auf solche, die nicht einmal ihren Mindestbedarf an Nahrungsmittel decken können und als “Elend” eingestuft werden.

Der Armutskoeffizient lag in der ersten Periode der Militärregierung um die 10%, und am Ende (Dezember 1983) bei 18,4%. Unter der Regierung von Alfonsín stieg er bis auf 47%, unter Menem nahm er dann bis 1993 und 1994 auf 23% ab, stieg dann wieder bis 1999 auf 20%, machte danach unter De la Rúa einen Sprung auf fast 40% Ende 2001, stieg dann unter Duhalde auf bis zu 57,5% im Jahr 2002, und nahm von da an, schon unter Duhalde und noch mehr unter Nestor Kirchner, kontinuierlich ab, bis auf 19% 2006. Dann stieg der Koeffizient auf fast 40% im Jahr 2007, und nahm von da an, unter Cristina als Präsidentin, mit Schwankungen auf 32,2% 2015 ab. Unter Macri setzte dann eine Zunahme bis auf fast 40% ein, und dann setzte unter Alberto Fernández eine weitere ununterbrochene Zunahme ein, bis zu den 42%, die es Ende 2020 waren. Es gibt jetzt 3 Mio. Arme mehr als Ende 2019, und 7,7 Mio. mehr als Ende 2017.

Wenn diese Zahlen stimmen würden, vor allem die von 4,7% der Elenden, dann müsste dies in einem Straßenbild zum Ausdruck kommen, mit vielen Menschen, die Haut und Knochen sind. Doch die Armen und Elenden scheinen irgendwie doch ernährt zu sein, wobei man oft eine falsche Ernährung bemerkt, die in dünnen Menschen mit dicken Bäuchen und anderen Erscheinungen zum Ausdruck kommt. Bei Kindern von sehr armen Familien enthält die Ernährung zu wenig Protein u.a. Nährstoffe, die für die Entwicklung des Gehirns unerlässlich sind.

Die Regierung bemüht sich intensiv und ziemlich erfolgreich um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, über die Karte AlimentAr und direkte Versorgung der zahlreichen gemeinnützigen Essanstalten, auch der Schulen, mit Lebensmitteln. Sozialminister Daniel Arroyo hat gute Arbeit geleistet und kümmert sich intensiv um das Problem. Er ist sich auch bewusst, dass er die Art der Nahrungsmittel verbessern muss, mit mehr Gemüse und weniger Teigwaren. Dennoch fehlt noch viel.

Fangen wir jetzt von vorne an. Die Armutsstatistik beruht auf einer Erhebung bei ca. 10.000 Haushalten in 31 städtischen Ballungszentren, und das Ergebnis wird dann auf das ganze Land hochgerechnet. Diese Hochrechnung von eins zu tausend, die dabei entsteht, da es im ganzen Land etwa 10 Mio. Haushalte gibt, ist statistisch nicht zulässig, umso mehr als die Armut qualitativ in ländlichen Gebieten ganz anders ist. In diesen verfügen viele Menschen über einen Gemüsegarten, oft auch über Hühner und eventuell Schweine. Das Programm pro Huerta, das 1990 eingeführt wurde, bei dem das technologische Institut der Landwirtschaft INTA Familien mit einer kleinen Bodenfläche, auch Schulen und Gemeinden, mit Gemüsepflanzen oder Samen versorgt und sie lehrt, sie zu pflanzen und pflegen, wobei oft auch Obst und Hühner hinzukommen, umfasst schon an die 600.000 Einzelfälle, so dass damit gerechnet wird, das etwa 2 Mio. Menschen sich zum Teil durch Eigenproduktion ernähren. All das wird vom INDEC nicht erfasst. Hinzu kommt in manchen Fällen noch der Fischfang. Abgesehen davon sind die Wohnungen der Armen auf dem Land und in kleinen Dörfern allgemein viel besser als in den Elendsvierteln der Vororte der Großstädte.

Ein Punkt, der auch erwähnt werden muss, ist dass sehr viele der Armen, die in Elendsvierteln hausen, aus Paraguay, Bolivien u.a. lateinamerikanischen Ländern kommen. Argentinien importiert arme Menschen, die im Allgemeinen (mit Ausnahme der Venezolaner) einen niedrigen kulturellen Stand haben, und exportiert Akademiker und sonst gut ausgebildete und erfahrene Menschen. Das ist ein schlechtes Geschäft für das Land. Die Grenzkontrollen funktionieren nicht, und die Rücksendung der illegalen Einwanderer ist faktisch und politisch nicht möglich. Doch auf alle Fälle sollten die Grenzkontrollen an kritischen Grenzen erweitert werden. Denn sonst drohen die Elendsviertel explosiv zu wachsen.

Der französische Philosoph René Descartes sagte, wenn man vor einem großen Problem steht, müsse man versuchen es in Einzelprobleme aufzuteilen und dann an diese herangehen. Wir haben hier schon auf zwei Gruppen hingewiesen, die sehr unterschiedlich sind, nämlich die städtischen und die ländlichen Armen. Aber man kann die Aufteilung noch weiterführen. Bei einigen besteht das Armutsproblem grundsätzlich darin, dass sie arbeitslos sind, wobei sie mit einem normalen Lohn die Armut überwinden. Andere haben keine Arbeitsmöglichkeit, so dass sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Einige haben eine Eigentumswohnung, andere nicht, oder nur eine Hütte aus Blech und Plastikfolien. Die Wohnungsverhältnisse, die bei einer guten Armutsdefinition entscheidend sind, werden vom INDEC nicht berücksichtigt.

Um das Armutsproblem ernsthaft in Angriff zu nehmen, bedarf es der Sozialassistenten, von denen es nur wenige gibt, die für andere Zwecke eingesetzt werden. Unter Eduardo Duhalde als Gouverneur der Provinz Buenos Aires (1991 bis 1999) hat seine Frau Hilde, genannt Chiche, ein Netz von Nachbarn aufgebaut, die sich um die armen kümmerten. Das bedeutet nicht, dass sie ihnen Geld gaben, sondern sie begleiteten sie, wenn sie Krankheitszeichen aufwiesen, zum Hospital, verschafften ihnen eventuell eine Beschäftigung oder Möglichkeiten, einen Beruf zu lernen, und versuchten, sie in die Gesellschaft zu integrieren. Ausgebildete Sozialassistenten würden diese Tätigkeit bestimmt besser verrichten, und könnten dem Sozialministerium auch konkrete Angaben übermitteln, um den Beistand effizienter zu gestalten.

Sozialminister Arroyo hat gewiss viel zu tun. Doch als erstes sollte er dazu beitragen, dass das Problem entpolitisiert, konkret untersucht und realistisch dargestellt wird, und Lösungsmöglichkeiten entworfen werden, mit denen an das Problem herangegangen wird. Die Gesellschaft sollte überzeugt werden, dass das Problem eine Lösung hat, und nicht, dass es unlösbar ist und in einer sozialen Explosion von unvorstellbarem Ausmaß entartet. Genau das ist der Eindruck, den die gegenwärtige Diskussion vermittelt.


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