Von Juan E. Alemann
Der Fall Vicentin hat die volle Achtung der bestehenden Rechtsordnung in den Vordergrund gestellt, und das hat eine ganz besondere Bedeutung. Argentinien hat formell ein juristisches System, das nicht viel von denen abweicht, die in den fortgeschrittenen Staaten bestehen. Das System ist für ein zivilisiertes Zusammenleben, für Ordnung, Sicherheit und Verhinderung von Übergriffen des Staates gedacht. Es erlaubt uns ein Leben mit Freiheit, Sicherheit und auch wirtschaftlichem Fortschritt. Die Mängel der Rechtsordnung beruhen in Argentinien auf Schlamperei, Korruption und Politisierung.
In diesem Sinn ist es besonders wichtig, dass die Verfassung das Eigentumsrecht betont. Artikel 17 lautet: “Das Eigentum ist unverletzbar, und keinem Einwohner des Landes kann es ohne ein Urteil entzogen werden, das sich auf ein vorangehendes Gesetz stützt. Eine Enteignung wegen öffentlichem Interesse muss vom Gesetz als solche eingestuft und vorher entschädigt werden.” Linke Ideologen kritisieren dies, und fordern, dass der soziale Sinn des Eigentums betont werde (mit einer Verfassungsreform), und für Kommunisten darf es kein Privateigentum geben, oder bestenfalls nur in sehr beschränkter Form, also für eine Eigenwohnung u.dgl. Die Erfahrung mit dem Kommunismus hat gezeigt, dass die Wohlstandwirkung der Abschaffung des Privateigentums nicht eingetreten ist, und im Gegenteil, die Staaten, die Eigentum und Recht streng geachtet haben, die wohlhabendsten sind, mit geringer Armut und sozialem Aufstieg. Doch abgesehen von dieser theoretischen Diskussion, lässt die argentinische Verfassung kaum Zweifell über das Eigentumsrecht offen.
Präsident Alberto Fernández hatte die Intervention von Vicentin verfügt, und dann die Eingabe eines Gesetzesprojektes über Enteignung im Kongress angekündigt. Sofort wurde ein Interventor ernannt, der die Verwaltung der Firma übernehmen sollte, an Stelle der bisherigen Direktoren, die legal ernannt worden waren. Doch Vicentin A.G. hatte einen Vergleich vor Gericht beantragt (concurso de acreedores; auf deutsch ist jedoch Konkurs das Wort für das spanische Quiebra), und der Richter hatte dabei einen Konkursverwalter ernannt, wie es das Gesetz bestimmt. Einige Tage nach der Entscheidung des Präsidenten hat der zuständige Richter verfügt, dass der Präsident nicht befugt sei, einen Interventor zu ernennen, und diesem nur die Rolle eines Aufsehers gegeben. Das war ein Schlag ins Gesicht des Präsidenten, und zwar nicht nur, weil er nicht tun konnte, was er wollte, sondern weil ihm unterschwellig vorgeworfen wird, das Gesetz zu verletzen. Das ist besonders für einen Juristen, der auch Universitätsprofessor ist, eine Blamage.
Die Begründung, die AF für die Intervention gegeben hatte, nämlich grundsätzlich die Rettung eines Unternehmens, das zusammengebrochen war, so dass die Arbeitsplätze gefährdet waren und die Gläubiger nichts kassieren würden, besonders die kleinen und mittleren Landwirte, die Sojabohne an Vicentin geliefert hatten, geht an der Tatsache vorbei, dass das bestehende Konkursgesetz Lösungsmöglichkeiten vorsieht. AF scheint das Gesetz vom Jahr 1994 nicht zu kennen, eventuell weil er sein Jurastudium etwa zehn Jahre vorher abgeschlossen hat, als ein anderes Gesetz galt, und er sich dem Strafrecht gewidmet hat. Die erwähnte Reform stellt eine grundlegende Änderung dar. Das neue Konkursgesetz hat sich an dem der USA inspiriert und stellt die Rettung von Unternehmen in den Vordergrund, während das vorangehende Gesetz nur ein formelles Verfahren vorsah, das die Interessen der Gläubiger in den Vordergrund stellte, aber die Erhaltung eines Unternehmens überhaupt nicht erwähnt. Das bestehende Konkursgesetz sieht viele Möglichkeiten vor, wie Verzicht auf einen Teil der Forderung, Streckung der Zahlung, Übergabe von Aktiven und auch die Übertragung des Unternehmens auf einen Dritten, sei dieser ein Gläubiger oder ein anderer, was im US-Recht “cram down” benannt wird. Es kann dabei auch unterschiedliche Lösung für einzelne Gläubiger geben, während es früher die gleiche für alle war. Wenn die Regierung ein Interesse am Weiterbestehen von Vicentin hat, dann muss sie über die Banco Nación und die AFIP, die als Gläubiger auftreten, dazu beitragen, wobei sie auch sonst Mittel hat, um das Weiterbestehen des Unternehmens möglich zu machen. Auch in diesem Fall gilt das Prinzip, das in den USA 2008 aufgestellt wurde: “Too big to fail”. Also, sinngemäss, “so groß, dass der Schaden eines Zusammenbruchs eine hohe negative Wirkung auf die Wirtschaft hätte, die auf alle Fälle vermieden werden sollte“.
Vicentin ist ein Familienunternehmen, das vor 90 Jahren gegründet wurde, und schließlich zu einem Großunternehmen aufstieg. Das Geschäft von Vicentin, vor allem das Kerngeschäft, nämlich der Export von Ölsaat, Speiseöl, Sojamehl, Biodieselöl und Getreide, ist nicht einfach, und der Staat würde es bestimmt viel schlechter vollziehen als die bestehende Leitung, die über eine langjährige Erfahrung verfügt. Es ist ein sehr dynamisches Geschäft, das mit der staatlichen Starrheit in Konflikt gerät. Dass Vicentin jetzt gestolpert ist, hängt weitgehend mit ungünstigen gesamtwirtschaftlichen Umständen zusammen, für die die Firma nicht verantwortlich ist. Ohnehin ist es für ein rein argentinisches Unternehmen schwierig mit multinationalen zu konkurrieren, die von ihren Mutterhäusern gestützt werden, und Zugang zum internationalen Finanzmarkt haben, was bei lokalen sehr beschränkt der Fall ist.
Gehen wir jetzt auf die Enteignung über. AF erwähnte in diesen Sinn das Enteignungsgesetz, das auf der Verfassung beruht. Dabei muss zunächst ein öffentliches Interesse nachgewiesen werden, das in diesem Fall zweifelhaft ist. Der Sinn der Enteignung bestand ursprünglich in der Notwendigkeit, Landflächen für Eisenbahnen, Straßen oder andere Infrastrukturprojekte zur Verfügung zu stellen. Aber das öffentliche Interesse kann nicht als Übernahme eines Unternehmens ausgelegt werden, das in extreme Schwierigkeiten geraten ist und eventuell nicht weiter bestehen kann. Das müsste zumindest im Konkursgesetz vorgesehen sein, was nicht der Fall ist. So wie AF den Fall dargestellt hat, könnte der Staat sämtliche Unternehmen übernehmen, die die Gläubiger einberufen haben und eventuell Konkurs melden müssen. Abgesehen davon sieht die Verfassung unmissverständlich vor, dass der Staat die Inhaber der Firma vorher (und nicht nach der Übernahme!) entschädigen muss. Erstens ist es schwierig, den Wert festzusetzen, und zweitens erfordert dies eine gewisse Zeit, so dass der Staat das Unternehmen nicht sofort übernehmen könnte. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass der Staat pleite ist und kein Geld für dies hat. Und wenn er über finanzielle Mittel verfügt, dann hat er gewiss andere Prioritäten.
Ob der Präsident sich den Fall juristisch überlegt hat, oder nur auf den Krawall reagiert hat, der auf Grund seiner Entscheidungen entstanden ist, Tatsache ist, dass er bei der Enteignung einen Rückzieher gemacht hat, kein Gesetzesprojekt im Kongress eingereicht hat, und sich überlegt, wie er jetzt vorgehen muss. Der Gouverneur von Santa Fe, Omar Perotti, hat ihm vorgeschlagen, landwirtschaftliche Genossenschaften u.a. als Aktionäre bei Vicentin aufzunehmen. Der ehemalige Wirtschaftsminister Roberto Lavagna hat vorgeschlagen, dass der Staat eine “goldene Aktie” übernehme, was ihm bei wichtigen Entscheidungen (wie den Verkauf der Kontrollmehrheit an eine ausländische Firma) ein Vetorecht gibt. Indessen ist der Präsident nicht befugt, direkt über diese Dinge zu entscheiden. Sie müssen im Rahmen des Konkursverfahrens vorgelegt und genehmigt werden, was allerdings dadurch vereinfacht wird, dass eine Lösung dieser Art voraussichtlich von den bestehenden Mehrheitsaktionären von vornherein angenommen wird, denen es an erster Stelle nicht um die Erhaltung ihres Aktienpaketes, sondern um die des Unternehmens geht.
Es ist in Ordnung, dass sich der Präsident um die Erhaltung von Vicentin kümmert. Denn es handelt sich schließlich um einen großen Exporteur von landwirtschaftlichen Produkten und dem größten von Sojaöl und –mehl, und auch um einen großen Fabrikanten von Ethanol und Biodieselöl, der auch auf anderen Gebieten tätig ist Aber es muss alles im Rahmen des Gesetzes geschehen. Die Vorstellung des Kirchnerismus, dass die politische Macht über dem Recht steht, die Néstor und Cristina Kirchner in ihren Regierungen vollzogen haben, ist gewiss nicht angebracht. Hier geht es, wie wir es oben erläutert haben, um viel mehr als Vicentin. Es geht um Rechtsstaat und Demokratie.
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