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Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Der Wohlstand der Argentinier

Von Juan E. Alemann

Die Argentinier (oder Argentiner) weisen allgemein einen existentiellen Pessimismus auf, bei dem sie die negativen Aspekte des Landes, der jeweiligen Regierungen und der Gesellschaft übertreiben, und die positiven ignorieren oder in ihrer Bedeutung herabsetzen. Warum das so ist, ist ein Thema für Soziologen und Psychologen. Gegenwärtig fällt auf, wie sehr die Armutsproblematik hervorgehoben wird und dabei an die 40% der Bevölkerung auf Grund von sehr fragwürdigen Statistiken (bei einer Hochrechnung von einer Umfrage bei 10.000 Familien auf ca. 10 Mio.!) als arm eingestuft wird, wobei ein Teil davon sogar angeblich hungert. Diese Menschen, die sich somit kaum ernähren, müsste man auf den Straßen sehen, wie es in Biafra und Kalkutta sichtbar war. Man sieht sie jedoch nirgends. Verstecken sie sich? Das viele Menschen unzureichend oder falsch ernährt sind, ist etwas ganz anderes, und erfordert auch andere Lösungen. Die Übertreibung und Politisierung der Armutsproblematik führt zu falschen Strategien für deren Überwindung. Und so ist es auch bei vielen anderen Aspekten der argentinischen Wirtschaft.

Auf der anderen Seite werden die zahlreichen Ausdrucksformen einer wohlhabenden Gesellschaft systematisch übersehen, an erster Stelle die vielen Automobile, von denen die meisten keine 5 Jahre alt sind. Die vielen Country Clubs und die geschlossenen Wohnviertel, die sich in den letzten Jahrzehnten gebildet haben, zu denen noch Puerto Madero als Luxusviertel hinzukommt, das vor 30 Jahren nicht bestand, auch in Ansätzen nicht, passen nicht zur Auffassung, dass das Land seit Jahrzehnten stagniert und dabei immer ärmer wird.

Beginnen wir von vorne. Bei der Messung des Wohlstandes geht man vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus, das dem realen Einkommen der Bevölkerung entspricht. Heute weiß man nicht einmal, wie hoch das BIP gesamthaft und pro Kopf ist. In Dollar gemessen, lag es 2017 noch bei u$s 600 Mrd., und nach der Abwertungswelle, die Mitte 2018 einsetzte, unter u$s 300 Mrd. Sind wir wirklich halb so wohlhabend wie vor zwei Jahren? Das ist einfach dummes Zeug! Das BIP muss zunächst in konstanten Werten berechnet werden, und dann zu einem bestimmten Kurs in Dollar umgerechnet werden, der etwa der Kaufkraftparität entspricht. Dann weiß man, von was man überhaupt redet.

Gehen wir jetzt einen Schritt weiter zurück. Die Methodologie der BIP-Berechnung wurde zum letzten Mal in Argentinien im Jahr 1994 festgesetzt, von Fachleuten der UNO und ihrer Lateinamerikabteilung CEPAL, die der damalige Wirtschaftsminister Domingo Cavallo für diesen Zweck verpflichtet hatte. Dabei ergab sich, dass das BIP pro Kopf der Bevölkerung doppelt so hoch war, als es bisher angegeben wurde. Wir hatten schon 1987 eine Korrelation zwischen dem Pro-Kopf-BIP verschiedener Länder und dem Pro-Kopf-Konsum von wichtigen Lebensmitteln, von Stahl, Zement, Textilien u.s.w. berechnet, und auch anderen Wohlstandindikatoren wie die Wohnungslage, der Kfz-Bestand, die Schulung u.s.w. aufgestellt. Dabei ergab sich eindeutig, dass das BIP pro Kopf der Bevölkerung in Argentinien mindestens u$s 5.000 betragen musste, und nicht ca. u$s 3000, wie es damals offiziell hieß. Die UNO-Fachleute haben uns schließlich recht gegeben. Sie gelangten damals auf u$s 7.000. Wir haben diese Berechnung jetzt nicht wiederholen können (das ist eine Arbeit für die vielen Wirtschaftsforschungsinstitute), aber einige Hinweise deuten darauf hin, dass sich wieder die gleiche Lage ergibt: das BIP pro Kopf ist viel höher als es offiziell angegeben wird.

Seit 1994 ist viel geschehen. Die technologische Revolution hat die wirtschaftliche Realität von Grund auf geändert, und im Wesen die Produktivität sprunghaft erhöht. Es ist einfach irreal, anzunehmen, dass dies nicht in einer bedeutenden BIP-Zunahme zum Ausdruck gekommen ist. Damals gab es kaum Mobiltelefone, während es heute mehr als die ganze Bevölkerung gibt. Damals befand sich Internet erst im Anfangsstadium, während es heute zum täglichen Leben gehört, und dieses, auch die Arbeit, für sehr viele Menschen grundsätzlich verändert hat. Auch den Internet-Handel, der sich zunehmend durchsetzt, gab es damals nicht. Bei der Landwirtschaft hat die technologische Revolution u.a. dazu geführt, dass u.a. die Ernte von Getreide und Ölsaat fast drei Mal so hoch als Anfang der 90er Jahre ist. Der Tourismus hat explosiv zugenommen, was vom Bau unzähliger neuer Hotels, plus Erweiterung bestehender, begleitet wurde. Der Außenhandel ist stark gestiegen, und der Hafen von Buenos Aires platzt aus allen Nähten, obwohl er in den 90er Jahren und auch danach voll modernisiert wurde. Die Zahl der Personen, die im Land per Flugzeug reisen, hat sich ab 1994 vervielfacht. Die Veränderungen sind so bedeutend und mannigfaltig, dass sie auch die Struktur der Wirtschaft grundsätzlich verändert haben. Und wenn man das BIP auf der Grundlage dieser neuen Struktur berechnet, dann ergibt sich bestimmt ein viel höheres BIP, sowohl gesamthaft wie pro Kopf. Wir tippen auf mindestens u$s 20.000 pro Kopf, was dann gesamthaft u$s 900 Mrd. ergeben würde. Allerdings sind es theoretische Dollar, die nur etwa die gleiche Kaufkraft wie in den Vereinigten Staaten darstellen. Zum bestehenden Wechselkurs schrumpft der Betrag erheblich, doch gewiss nicht entfernt auf u$s 300 Mrd. wie es jetzt gelegentlich erwähnt wurde.

Die Berechnung des BIP ist weit mehr als eine statistische Spielerei. Bei einem höheren BIP nimmt die Staatsquote (gesamte Staatsausgaben, einschließlich Staatsinvestitionen im Verhältnis zum BIP) ab. Das ändert dann die grundsätzliche Analyse der argentinischen Wirtschaft. Das Staatsdefizit und die Staatsschuld, ausgedrückt als Prozentsatz des BIP, nehmen ab. Argentinien erscheint dann nicht mehr als hoffnungsloser Fall, sondern als ein Problemfall, für den es eine Lösung gibt. Das ist etwas ganz anderes. International, besonders von den internationalen Finanzinstituten (IWF und Weltbank) und auch von der Finanzwelt, würde Argentinien dann anders eingestuft werden, wobei dann eventuell auch mögliche Investoren das Land positiver sehen.

Alberto Fernández wäre gut beraten, wenn er als eine seiner ersten Amtshandlungen ab 10. Dezember eine Neuberechnung des BIP einleitet, und dafür wie 1994 UNO und CEPAL-Fachleute verpflichtet. Es ist eine einfache Entscheidung, die ihm und dem Land viel bringen kann. Wenn es beim BIP einen Sprung im Jahr 2019 oder 2010 gibt, dann muss man als Zweites diesen auf die einzelnen Vorjahre aufteilen, was die Fachleute auch berechnen sollten. Das würde eventuell die Macri-Regierung besser erscheinen lassen, als sie die bestehende Statistik darstellt. Und vielleicht schneidet dann auch Cristina in ihrer zweiten Amtsperiode (die gesamthaft von Stagnation gekennzeichnet war) besser ab.

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