Von Juan E. Alemann
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro hat grundsätzlich ein andere Auffassung über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik als Argentiniens Präsident Alberto Fernández und noch mehr als die Vizepräsidentin Cristina Kirchner, die dem ehemaligen Präsidenten Lula da Silva und dessen Nachfolgerin Dilma Rousseff nahesteht. Dass Bolsonaro die argentinische Wirtschaftspolitk als sozialistisch bezeichnete, ist AF in die falsche Kehle geraten. Doch im Wesen hat er recht. Argentinien hat eine Wirtschaftsordnung, die zum Teil kapitalistisch und zum Teil sozialistisch ist, und das verträgt sich schlecht, weil es eine sehr gute Staatsverwaltung voraussetzt, die es hier nicht gibt. Argentinien ist nicht Schweden, wo die Staatsquote auch hoch ist, aber der Staat gute Dienste bietet, vor allem was Erziehung und Gesundheit betrifft.
Brasilien war auch in Richtung Sozialismus weit fortgeschritten, was jedoch in einer tiefen Rezession in den Jahren 2016 und 2017 endete, mit einem BIP-Rückgang von insgesamt 7%. Präsident Michel Temer zuerst und Jair Bolsonaro jetzt, haben sich bemüht, die Lage einzurenken und dabei schon große Erfolge erzielt. Die Reform der Arbeitsgesetzgebung (unter Temer) und die des Pensionssystems (unter Bolsonaro) sind fundamentale Meilensteine für eine Wirtschaft, die langfristig wachsen kann. Vor allem die neue Arbeitsgesetzgebung sollte sich AF zum Vorbild nehmen.
Bolsonaro, und vor allem sein Wirtschaftsminister Paulo Guedes, wollen die brasilianische Wirtschaft öffnen, d.h. die Zölle gegenüber Drittländern verringern und sich stärker in die Weltwirtschaft integrieren. Das ist nicht einfach, wobei sich eine besonders schwierige Lage bei Kapitalgütern stellt. Brasilien hat, im Gegensatz zu Argentinien, eine sehr ausgedehnte Maschinenindustrie, die jedoch technologisch zurückgeblieben ist. Die Industrie im allgemeinen weist darauf hin, dass ihre Konkurrenzfähigkeit durch weniger produktive lokale Maschinen beeinträchtigt sei, und sie die ganz modernen benötige (die vornehmlich in Deutschland hergestellt werden), um konkurrieren zu können. Doch dann müssten lokale Fabrikanten eventuell schließen.
Argentinien geht jetzt genau den entgegengesetzten Weg: die Importe werden beschränkt, um einen hohen Überschuss der Leistungsbilanz (Handelsbilanz plus Dienstleistungsbilanz) zu erwirtschaften, mit dem Zinsen und Amortisationen auf Auslandskredite ausgeglichen werden können. In Brasilien besteht dieses Problem nicht. Die Staatsschulden, die verfallen, werden durch Aufnahme neuer Kredite oder Unterbringung von Staatspapieren gedeckt. Und außerdem erhält Brasilien direkte private Kapitalinvestitionen in hohem Umfang, was sich nebenbei auch positiv auf die Zahlungsbilanz auswirkt, während Argentinien kaum welche erhält.
Die Politik der Importverringerung, sei es durch Zölle oder direkte Eingriffe über die “Importlizenzen”, die Einzelgenehmigungen darstellen, die gelegentlich verweigert oder auf einen geringeren Betrag verringert werden, wird auch bei Waren aus Brasilien angewendet, was offen gegen den Mercosur-Vertrag verstößt. Die brasilianischen Behörden protestieren, aber die argentinischen stellen sich taub.
Diese unterschiedlichen Einstellungen werfen auch einen Schatten auf das Freihandelsabkommen des Mercosur mit der EU auf. Das unter Macri abgeschlossene Abkommen stand im Zeichen der Liberalisierung, und Bolsonaro bejaht diese Einstellung. Aber bei Alberto Fernández widerspricht dies dem neuen wirtschaftspolitischen Kurs.
Das Problem, das sich hier stellt, hat innerhalb des Mercosur, so wie er ist, keine Lösung. Der Mercosur ist als gemeinsamer Markt gedacht, mit Nullzoll für den internen Handel unter den Partnern (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay) und einem gemeinsamen Außenzoll. In der Praxis ist der innerregionale Handel weitgehend zollfrei, aber es bestehen gelegentlich andere Importrestriktionen. Zucker wird faktisch nicht aus Brasilien importiert, weil sonst die ganze argentinische Zuckerindustrie verschwinden würde. Bei Kfz besteht ein System des verwalteten Handels, das auch nicht in das Gesamtkonzept passt, ohne ein solches jedoch die argentinische Kfz-Industrie stark schrumpfen würde. Bei Reis hatte sich Argentinien seinerzeit verpflichtet, erst zu exportieren, wenn die brasilianischen Landwirte ihren Reis verkauft haben. Und es gibt noch viel mehr Ausnahmen. Die Zollsätze gegenüber Drittländern wurden bisher nicht vereinheitlicht, und dieser Zustand wird geduldet, obwohl er Probleme schafft, weil dies bedeutet, dass importierte Teile bei lokal gefertigten Produkten dann einen unterschiedlichen Preis in beiden Ländern haben, so dass eines (meistens Brasilien) einen Konkurrenzvorteil hat.
Wie weit sich Präsident Alberto Fernández und Außenminister Felipe Solá über all dies im Klaren sind, sei dahingestellt. Sie sollten sich auf alle Fälle beraten lassen. Z.B. hat Debora Giorgi, die unter Cristina Industrieministerin war, eine klare Vorstellung. Sie befürwortet die Aufgabe des Mercosur und den Übergang auf eine Freihandelszone, bei der die Liberalisierung fallweise vereinbart wird, und jedes Land dabei über den Zollsatz gegenüber Drittländern entscheidet. Einen andere Lösung, die wahrscheinlich politisch machbarer wäre, besteht darin, den Mercosur in einen “unvollkommenen” gemeinsamen Markt umzuwandeln, bei dem es zahlreiche Ausnahmen gibt. Über diese prinzipelle Entscheidung sollte AF mit Bolsonaro reden, um eine realistische Grundlage für die Zukunft des Mercosur, oder eigentlich für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien, zu schaffen.
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