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Der Mythos vom weißen Argentinien

Wie „Identidad Marrón“ gegen Rassismus kämpft

Von Wim van Geenen

Identidad Marron
Wer erzählt die Geschichte und aus welcher Perspektive? Identidad Marrón wollen die argentinischen Gründungsmythen neu denken. (Foto: privat)

Buenos Aires (AT) - An einem Sommertag dieses Jahres steht im Museo de Bellas Artes in Buenos Aires ein metallenes Pferd. Auf ihm sitzen zwei Aktivisten des antirassistischen Kollektivs „Identidad Marrón“ (dt. etwa: braune Identität); er mit freiem Oberkörper, indigenen Gesichtszügen und schwermütigem Blick, sie in einem weißen Kleid, mit langem blonden Haar und mit einem Speer in der Hand. Ein Kamerateam des argentinischen Bildungssenders „Canal Encuentro“ dokumentiert die Situation.

Die Performance stellt das Gemälde „La vuelta del malón“ aus dem Jahr 1892 nach, eines der Schlüsselwerke der argentinischen Identitätsbildung. Es hängt nur wenige Meter vom Ort des Geschehens entfernt und zeigt, wie Indigene eine Truppe europäischer Siedler überfallen und dabei eine weiße Frau entführen.


Die Rückkehr des „Malón“

„Die Idee hinter der Performance ist es, einen Gegenentwurf zum Gründungsmythos des argentinischen Nationalstaats aufzuzeigen“, erklärt Alejandro Mamani, Rechtsanwalt und einer der Gründer von Identidad Marrón. „Der ‚Malón‘, also der Überfall indigener Gruppen auf europäische Siedler, diente in der Vergangenheit häufig als Rechtfertigung, um weiter in die Gebiete der Indigenen vorzudringen. Dabei kam die eigentliche Invasion auf fremdes Gebiet von Seiten der Europäer. Deshalb wollen wir das Gemälde neu denken, nicht nur in einer künstlerischen, sondern auch in einer politischen Weise.“

Mamani, ein stämmiger Mitdreißiger mit kräftigem schwarzem Haar, hat Identidad Marrón vor acht Jahren zusammen mit einigen Mitstreitern ins Leben gerufen. Seitdem setzt sich das Kollektiv dafür ein, den strukturellen Rassismus gegenüber Menschen mit indigener Abstammung sichtbar zu machen. Die Gruppe habe zusammengefunden, nachdem verschiedene nicht-weiße Aktivisten gemerkt hatten, dass sie in einem weiß geprägten Umfeld die Ausnahme seien, erzählt er, als er den Autor dieses Artikels zum Interview in seiner Wohnung im Buenos Aires-Stadtteil Caballito empfängt. Daraus sei der Wunsch entstanden, einen eigenen politischen Raum für rassifizierte, also aufgrund ethnischer Merkmale eingeordnete und stereotypisierte Personen zu öffnen. Aus einem zunächst losen Zusammenschluss entstand über die Jahre ein Verein, in dessen Dunstkreis sich heute über 100 Mitstreiter aus Politik, Wissenschaft und Kultur, aber auch aus dem künstlerischen und aktivistischen Umfeld bewegen.


Argentinien - ein weißes Land?

Der Rassismus in Argentinien und Lateinamerika sei komplex, sagt Mamani, der mit Mitte dreißig bereits Fälle vor dem Obersten Gerichtshof bestritten hat. Das läge unter anderem daran, dass sich in Lateinamerika der Mythos halte, dass Rassismus vordergründig ein Problem der USA sei - ein Motiv, das nach dem Mord an George Floyd im Mai 2020 auch in Deutschland immer wieder zu hören war. Das Besondere in Lateinamerika sei, dass das Thema Rassismus auf institutioneller, struktureller und rechtlicher Ebene nicht als solches wahrgenommen werde, außer wenn es um Ungleichbehandlungen der Afrikanischen Diaspora oder der jüdischen Gemeinschaft gehe. Dabei sind viele gesellschaftliche Schlüsselpositionen von Weißen besetzt: Am Obersten Gerichtshof Argentiniens gab es bis heute keinen einzigen nicht-weißen Richter (und nur drei Richterinnen); in vielen weiteren Machtpositionen in Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur sind Nicht-Weiße (wenn überhaupt) lediglich als Minderheit vertreten.

Die Ursache für dieses Ungleichgewicht sieht Mamani tief in der Geschichte der lateinamerikanischen Staaten verwurzelt. Argentinien nimmt dabei eine Sonderrolle ein. Zwar habe sich jedes Land auf dem Kontinent seine eigene Fiktion darüber geschaffen, wie es zum Nationalstaat wurde; der argentinische Anspruch, das „Paris Lateinamerikas“ zu sein, sei jedoch besonders hervorstechend. „Argentinien präsentiert sich als ein Land, in dem es außer Pampa und Wüste nichts gab. Als die Indigenen dann ‚verschwanden‘, kamen die europäischen Einwanderer und mit ihnen ruhmreiche Gründung des Landes“, fasst Mamani die Geschichte der argentinischen Nationsbildung kurz zusammen. Hieraus sei der Mythos eines ethnisch weißen Argentiniens entstanden, „das sich selbst als das am wenigsten lateinamerikanische, oder andersherum, als das europäischste Land des Kontinents empfindet“ - eine Erzählung, die sich in manchem deutschen Reiseführer wiederfindet.


Jahrhundertelange Ausgrenzung

Die ursprünglichen Bewohner des amerikanischen Doppelkontinents seien im Verlauf dieses Prozesses historisch und konzeptuell ausgegrenzt worden, führt Mamani weiter aus. Trotz des schmerzvollen Themas spricht er mit ernster und fester Stimme; die Akten seines aktuellen Falls legt er erst zur Seite, als das Interview bereits begonnen hat. Historisch gesehen würden die Indigenen heute grundsätzlich als Thema der Vergangenheit betrachtet, sagt er. In diesem Zusammenhang verwendet er häufig den Begriff „borrado“: Gestrichen, ausradiert, verblasst. Auch die Situation der Nachfahren der ursprünglichen Bevölkerung sei von vielschichtiger Ausgrenzung geprägt. „Die große Mehrheit der rassifizierten Bevölkerung Lateinamerikas lebt in Elendsvierteln, in denen es teils an grundlegender Infrastruktur wie Wasser, Strom, Internet und Gas fehlt. Das passiert in Brasilien mit den Afro-Brasilianern in den Favelas, es passiert in Argentinien mit den „Villas“, in Bolivien mit El Alto, es passiert in Peru, Ecuador und Mexiko genauso.“

Identidad Marron
Alejandro Mamani, einer der Mitbegründer von Identidad Marrón. (Foto: privat)

Als Anwalt mit zwei Master-Abschlüssen kennt Mamani diese Probleme auch aus rechtlicher Perspektive gut. Er berichtet im Interview ausführlich über die prekäre Situation der Hausangestellten in Lateinamerika, die in Argentinien bis vor zehn Jahren nicht über gewöhnliche Arbeitnehmerrechte verfügten, aber auch über indigene Frauen, die bei der Geburt Gewalt erfahren, da die Ärzte ihre Geburtstraditionen nicht respektieren. Er kennt die Fälle des „gatillo facil“, also der Morde von Polizisten an zumeist jungen Männern mit brauner Haut. Eine Studie von Identidad Marrón ergab, dass es in Argentinien kein einziges arbeitsrechtliches Urteil gibt, bei dem Rassismus ein Thema wäre. Und das nicht, weil es an argentinischen Arbeitsplätzen keinen Rassismus gibt, sondern weil er im Kontext der indigenen Bevölkerung als Konzept schlicht nicht existiert.

Dabei ist er oft greifbar: Erst kürzlich rückte der Fall der „Wachiturros“ wieder ins Licht der Öffentlichkeit, einer nicht-weißen Cumbia-Gruppe aus marginalisierten Verhältnissen, die der Modekonzern „Lacoste“ aus Imagegründen dafür bezahlte, ihre Marke nicht öffentlich zu tragen. „Das ist Rassismus“, erklärt Mamani. Dass die „Wachiturros“ reiche Prominente gewesen seien, hätte in dem Fall nichts zur Sache getan: „Es ist egal, wie viel Geld du hast oder was dein sozialer Status ist. Was in Argentinien und in Lateinamerika zählt, ist der Wert der Haut. Wie viel ist deine Hautfarbe wert, wie viel ist deine Augenfarbe wert, wie viel ist dein Familienname wert? Es sind diese Dynamiken der Kolonie, die heute noch in ganz Lateinamerika fortbestehen.“


Kultur mit Klassenbewusstsein

Vor dem Hintergrund der Armut in vielen Teilen Lateinamerikas ist es Identidad Marrón wichtig, ihre Antirassismus-Arbeit mit einer Klassenperspektive zu verbinden. Die Armut sei ein zentraler Aspekt in Lateinamerika, findet auch Mamani, der hin und wieder Seitenhiebe in Richtung der akademisch geprägten Rassismus-Debatte des globalen Nordens austeilt. „Wir verfolgen einen Antirassismus mit Klassenbewusstsein“, sagt er.

Aktionen wie die im Museum der Schönen Künste sind deshalb nur ein Aspekt der Arbeit von Identidad Marrón. Ihr Instagram-Account @identidadmarron zeigt die ganze Bandbreite des Kollektivs: Neben Performances, Kunstausstellungen und Podiumsdiskussionen organisiert die Gruppe Workshops zu verschiedensten Themen, darunter Queerfeminismus, Menschenrechte und Umweltthemen, aber auch zur Digitalisierung und zu Schönheitsidealen. Manche ihrer Aktivitäten finden in Schulen, Universitäten oder auf der Straße statt, andere in renommierten Institutionen wie dem Centro Cultural Kirchner, dem Museo de Bellas Artes oder der Manzana de las Luces.

Eines der erfolgreichsten Konzepte der Gruppe ist der „octubre marrón“ (dt. etwa: brauner Oktober), ein Themenmonat, der auf die „Entdeckung“ Amerikas im Oktober 1492 anspielt und sich mit dem für Nicht-Weiße häufig erschwerten Zugang zum Kulturbetrieb auseinandersetzt. „Wir wollen mit dem ‚octubre marrón‘ einen Monat etablieren, um nicht nur über Rassismus zu sprechen, sondern auch um Künstler und ihre Werke sichtbar zu machen“, erläutert Mamani. Denn es gibt in argentinischen Museen kaum nicht-weiße Künstler, die dort ausstellen. Das Konzept ging auf: Das Stadtparlament von Buenos Aires hat den „octubre marrón“ bereits zwei Mal zu „von allgemeinem kulturellen Interesse“ erklärt. Im vergangenen Jahr konnte Identidad Marrón das Konzept sogar nach Brasilien und Mexiko exportieren.


Der Weg zur Gleichheit

Abseits des Kulturbetriebs sind für den Anwalt Mamani gleiche Rechte das wichtigste Mittel, um Rassismus zu überwinden. „Wer ernsthaft über Rassismus sprechen will, muss über den Zugang zu Rechten sprechen. Es geht darum, in die juristischen Strukturen vorzudringen und dort zu diskutieren, was Gleichheit bedeutet“, sagt er.

Eines der größten Probleme dabei sei, dass viele rassifizierte Menschen sich selbst nicht als rassifiziert wahrnehmen, sagt Mamani, der selbst einen indigenen Familiennamen trägt. „Sie wissen, dass sie nicht weiß sind, ich weiß auch, dass ich nicht weiß bin, aber es ist nur das: Wissen, was man nicht ist. Aber du weißt nicht, was du bist.“

Identidad Marron
“Antirassistischer Stolz”: Aktivisten von Identidad Marrón nach einer Debatte im Stadtparlament von Buenos Aires. (Foto: privat)

Im Gegensatz zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit Argentiniens und dem historischen Wunsch des argentinischen Staates, die Pampa mit weißen Europäern zu besiedeln, taucht laut Mamani das „Nicht-Weiße“ auf, für das es heute in Argentinien keinen Namen gibt. Das Nicht-Weiße ist nicht automatisch indigen, es scheint wie ausradiert, sagt er, denn auch der lateinamerikanische Mestizo ist in Argentinien kein gängiges Konzept. „Das Andere der Europäer erscheint als etwas Verwischtes und dieses Nicht-Konzept des Anderen erlaubt die permanente Verletzung der Rechte, weil dieser Andere vor dem Staat und seinem Recht nicht existiert. Wenn jemand nicht existiert, können auch seine Rechte nicht verletzt werden“.

Dass sich Gleichheit einfach so, etwa durch die Menschenrechte erklären ließe, glaubt Mamani nicht. „Die Leben der Menschen sind nicht gleich viel wert. Und das ist nicht so, weil ich das sage, sondern weil das jeden Tag passiert“, sagt er. „Der Krieg in der Ukraine zeigt uns, welche Kriege etwas bedeuten und welche nicht. Tote Indigene mit brauner Haut gegenüber Toten im globalen Norden - welche Toten sind es würdig, erinnert zu werden? Es geht um Zeit und um Erinnerung, darum wer es verdient, Teil der Geschichte zu sein“.



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