Von Juan E. Alemann
Cristina Fernández de Kirchner ist sich klar bewusst, dass sie im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung bei ihren Korruptionsprozessen verurteilt wird. Die Beweise, dass sie bei diesem gigantischen Raubmanöver der Kirchner-Regierungen am Staat heute die Hauptverantwortung trägt, sind so überwältigend, dass die Richter gar nicht anders handeln können. Die Richter können sich für Urteile Zeit nehmen, was sie schon viel zu sehr getan haben, aber schließlich müssen sie urteilen. Jetzt stehen sie außerdem unter Druck der öffentlichen Meinung, und wenn sie nicht bald die Urteile fällen, die Cristina betreffen, werden auch sie verdächtigt und eventuell sogar angeklagt.
Um sich der Schlinge zu entziehen, die sie an ihrem Hals zunehmend spürt, muss Cristina das ganze Justizsystem über den Haufen werfen. Sie vertritt offen die Auffassung, dass die Justiz der Politik unterstellt werden muss, was bedeutet, dass die Richter gewählt werden. In der Praxis bedeutet dies, dass sie von den Parteiführungen ernannt werden, an erster Stelle von der Regierungspartei. Innerhalb dieses Systems könnten die Richter einen Fall dann als “politisch” einstufen, und z.B. auch die Megakorruption der Kirchners und ihrer Kumpanen in diesen Kategorie einschließen, und somit das Verfahren niederschlagen. Es ist sonnenklar, dass dies bedeuten würde, dass es keine Justiz mehr gibt. Und das schafft eine der Grundlagen einer modernen Wirtschaft und Gesellschaft ab. Ohne Justiz wird die wirtschaftliche Entwicklung gehemmt, Investitionen werden mit einem großen zusätzlichen Risiko behaftet, und der stärkere setzt sich durch. Das Thema der Justiz geht weit über die Cristina-Prozesse hinaus.
Cristina gibt ihre eigenartige Auffassung der Justiz offen zum Ausdruck. Vor einiger Zeit sagte sie bei einer gerichtlichen Audienz, die Geschichte habe sie freigesprochen, was man so auslegen kann, dass eine gewonnene Präsidentenwahl das Rechtssystem für den Präsidenten außer Kraft setzt. Und letzte Woche sagte sie, in einer weiteren Audienz, die per Zoom stattfand und im Fernsehen übertragen wurde, dass es in der Politik und Regierung Korruption gäbe, aber auch in der Justiz. Womit sie zu verstehen gab, das eines das andere ausgleicht und die Korruption kein Verbrechen darstellt. Dabei sollte eine Anwältin, wie sie Cristina ist, wissen, dass es nicht zulässig ist, ein Verbrechen mit dem Argument zu rechtfertigen, dass auch andere ein solches begangen haben.
Ein großer Teil der Gesellschaft, vor allem der Mittelstand, hat klar begriffen, um was es jetzt geht. Dass die Justiz große Mängel aufweist und die Rechtsordnung auch der neuen Welt angepasst werden muss, in der wir leben, ist in Ordnung. Aber das man das Rechtssystem als solches über den Haufen wirft, eben nicht. Bei den Straßenkundgebungen, in denen der Mittelstand massenweise mit argentinischen Fahnen auftrat, ist dies klar zum Ausdruck gebracht worden. Die Leute haben sich vor Journalisten und Fernsehkameras entschieden gegen Korruption und für die Rechtsordnung ausgesprochen. Dass das Thema zu einem großen Politikum geworden ist, kommt Cristina gewiss nicht gelegen. Denn sie kann ihre Rechtsauffassung nur durchsetzten, wenn der Mittelstand, der politisch meinungsbildend ist, nicht bemerkt, was vor sich geht. Als Néstor Kirchner ab 2003 brutal gegen die Justiz vorging, und dabei auch Richter des Obersten Gerichtshofes verfassungswidrig absetzte, verhielt sich der Mittelstand passiv. Jetzt ist das nicht mehr so.
Die Problematik des Rechtssystems ist in Argentinien schon Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen. Drei historisch große Männer haben die Grundlagen für das moderne Argentinien gesetzt: Domingo Faustino Sarmiento hat den kulturellen Aspekt in den Vordergrund gestellt, mit allgemeiner Alphabetisierung und Erziehung, und mit europäischer Einwanderung, um die europäische Kultur auf Argentinien zu übertragen. Juan Bautista Alberdi hat die Grundlagen eines Rechtsstaates entworfen, mit Verfassung und Gesetzen, die die Spielregeln festsetzten. Das hat zur Verfassung von 1863 geführt. Und Julio Argentino Roca, zwei Mal Präsident (1880/86 und 1998/1904) hat das moderne Argentinien geschaffen, mit hohen Investitionen, einer hohen Immigration, dem Gesetz über allgemeine unentgeltliche Primarschulung, und schrittweiser Einführung einer modernen Rechtsordnung. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich gemäß einer jüngsten Berechnung von 1880 bis 1890 (unter Roca und seinem Nachfolger und Schwager Miguel Juárez Celman) etwa verdreifacht, was auch zur Finanzkrise von 1890 führte, die Juárez Celman zum Rücktritt zwang und seinen Vizepräsidenten Carlos Pellegrini zum Präsidenten machte. Unter der ersten Roca-Regierung wurde das Zivilgesetzbuch eingeführt, es wurden Eigentumsregister geschaffen und die Rechtsordnung wurde in vielen weiteren Aspekten ausgebaut, was auch Auslandsinvestoren rechtliche Sicherheit bot. Ohne die großen Fortschritte auf dem Gebiet der Rechtsordnung wäre der außergewöhnliche wirtschaftliche Aufschwung nicht möglich gewesen. Und jetzt ist die Überwindung der Wirtschaftskrise ohne eine eindeutige Bestätigung des Rechtsstaates auch nicht möglich.
Als Roca zwischen seinen zwei Präsidentschaften nach Europa reiste, wurde ihm von Seiten der Regierenden und von Politikern u.a. die Bedeutung der Rechtsordnung vorgebracht. Er war so beeindruckt davon, das er in seiner zweiten Amtsperiode den großen Gerichtspalast auf der Straße Talcahuano bauen ließ, der eine symbolische Bedeutung haben sollte.
Argentinien hat nach und nach ein Rechtssystem entwickelt, das nicht viel anders als in fortgeschrittenen Staaten ist. Doch es funktioniert bei Weitem nicht so gut wie in den USA, der EU u.a. Ländern. Das ist jedoch zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass die Richter Argentinier sind und sich wie ihre Landsleute und nicht wie Nordamerikaner oder Europäer verhalten. Die weniger strengen ethischen Maßstäbe kommen auch hier zum Ausdruck. Außerdem gibt es viel Schlampigkeit, Richter ohne feste juristische Überzeugungen, Korruption und Politik. Man muss noch viel arbeiten, um diese Mängel auszurotten. Von einem Tag zum anderen ist es gewiss nicht möglich.
Cristina, ihre Mitläufer und ihre Anwälte haben versucht, diese allgemeine Kritik an der Justiz, so auszulegen, dass Reformen durchgeführt werden, die das ganze System auf einer neuen Grundlage aufbauen, bei der die Justiz von der Politik abhängt. Doch dieser Trick will ihnen nicht gelingen. Nicht nur die Richter und Staatsanwälte sind dagegen (was selbstverständlich ist) sondern auch die allermeisten Anwälte, von denen es viel zu viele gibt, auch viele, die als Journalisten tätig sind, und noch mehr, die als Politiker auftreten. Auch vielen kirchneristischen Anwälten geht die Justizauffassung von Cristina gegen den Strich.
Das Projekt über Justizreform, das eine Sonderkommission ausgearbeitet hat, an der auch der Anwalt von Cristina, Carlos Beraldi, maßgeblich beteiligt ist, vertieft gewisse Mängel des Justizsystems, statt sie zu beheben. In der Deputiertenkammer kam es nicht durch. Die Opposition und auch Gruppierungen, die sonst mit dem Kirchnerismus mitmachen, stimmten dagegen.
Auch die Versetzung von zwei Richtern, die sich u.a. mit Cristina-Prozessen befassen und schon gegen sie Stellung genommen haben, ist ihr nicht gelungen. Die Betroffenen reichten Klage beim Obersten Gerichtshof ein, der diese annahm und die Richter zunächst auf ihren Posten bestätigte.
Auch die Zwangspensionierung einer großen Anzahl von Richtern und Staatsanwälten kommt nicht voran. Fernanda Raverta, Tochter des ehemaligen Finanzchefs der Montonero-Terroristen, Mario Montoto, und jetzt Leiterin der ANSeS, hat die Richter, die das Verfahren für ihre Pensionierung abgeschlossen haben, aber effektiv noch nicht in Pension gegangen sind, angewiesen, unmittelbar in Pension zu gehen. Wenn sie weiter im Amt bleiben, soll ihnen die Pension entzogen werden, die günstiger ist, als die, die sie nach der Reform des Systems beziehen würden. Verfassungsrechtler haben einstimmig darauf hingewiesen, dass dies verfassungswidrig sei. Sie kann eine schon genehmigte Pension nicht außer Kraft setzen, wobei es üblich ist, dass Richter das Pensionierungsverfahren abschließen und erst viel später in Pension gehen. Und wenn Frau Raverta die Pensionen effektiv außer Kraft setzt, werden die betroffenen Richter und Staatsanwälte Klage vor Gericht einreichen und den Prozess gewinnen. Außerdem droht dann für Frau Raverta eine böse Klage.
Präsident Fernández hat in seiner Rede vor dem Kongress die Schaffung eines Gerichtes angekündigt, in dem bestimmte Fälle behandelt werden, die sich auf Willkürlichkeit beziehen. Was damit gemeint ist, erklärte er nicht. Auch das wurde von Verfassungsrechtlern als verfassungswidrig eingestuft, wobei allgemein darauf hingewiesen wurde, dass dies nicht, wie der Präsident behauptet hat, den Obersten Gerichtshof erleichtert, sondern eine weitere Instanz schafft, die die Prozesse verlängert, genau das, was u.a. korrigiert werden sollte. Denn man kann niemand verbieten, dass er schließlich doch bei Obersten Gerichtshof Berufung einlegt. Auch dieses Projekt dürfe im Kongress nicht durchkommen.
Ebenfalls kündigte der Präsident die Schaffung einer bikameralen parlamentarischen Kommission an, die Mängel beim Obersten Gerichtshof feststellen soll. Auch das wurde juristisch beanstandet, so dass Justizministerin Marcela Losardo den Fall aufklärte, und sagte, die Kommission werde dem Gerichtshof keine Anweisungen erteilen. Auch dieser Angriffsversuch auf den Obersten Gerichtshof ist somit gescheitert.
Es ist begreiflich, dass Cristina unter diesen Umständen verzweifelt und wütend ist. Den Krieg gegen die Justiz hat sie eindeutig verloren, und dabei nur erreicht, dass Richter und Staatsanwälte sich zusammenschließen, und ihr Justizverein “Justicia legítima” (“legitime Justiz”) geschwächt wurde und es nicht wagt, öffentlich aufzutreten.
Wie bekannt wurde, soll sie nach dem Urteil, das ihren Strohmann Lázaro Báez und seine Söhne zu langen Haftstrafen verurteilt, Präsident Fernández angerufen haben und ihn nicht besonders freundlich behandelt haben. Denn sie weiß, das der Sprung von Báez auf sie sehr klein ist. Denn die Geldwäsche, wegen der er verurteilt wurde, hat ihren Ursprung in den Überpreisen bei öffentlichen Bauten, die Báez in hohem Umfang willkürlich von Néstor und danach von Cristina zugeteilt wurden, die dabei auch kassiert haben, wie es reuige Unternehmer, die gezahlt haben, zugegeben haben. Die Hefte des Chauffeurs Centeno zeugen von unzähligen Zahlungen in der Wohnung von Cristina und in der Residenz von Olivos. Nebenbei bemerkt: die Justiz hat die volle Gültigkeit der Aussagen der reuigen Angeklagten bestätigt.
Angeblich soll ihr der Präsident, als sie ihn als Kandidat aufgestellt hat, versprochen haben, ihre Gerichtsprobleme zu lösen. Doch dann hat er gemerkt, dass dies viel schwieriger ist, als er gedacht hatte. Und jetzt hat er ein Problem mit Cristina, das ihn vor die Alternative stellt, die Rechtsordnung zu missachten oder mit Cristina zu brechen.
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