Schweigen, bis es nicht mehr geht
Von Catharina Luisa Deege
Buenos Aires/Ulm - Obwohl es in der Real Academia Española, dem spanischen Pendant zum deutschen Duden, eine weibliche Version des Wortes „Veteran“ gibt, bekommt Alicia Reynoso im Mai 2021 ein Zertifikat in die Hand gedrückt, auf dem steht: Alicia Mabel Reynoso, veterano. Es ist ein einziger Buchstabe, der eine weitere Demütigung in ihrem emanzipatorischen Kampf darstellt. Stolz auf das Blatt Papier ist sie trotzdem, der Weg bis zur Anerkennung war lang und steinig. Und die Wut über diejenigen, die ihr trotz gerichtlicher Entscheidung immer noch nicht den Titel der Ex-Kombattantin gönnen, ist groß.
„Im Krieg gibt es nicht nur Kämpfer, da ist auch der Koch, der Mechaniker, die Krankenschwester und der Arzt, so dass jeder aus seiner Position heraus kämpft. Das Krankenhaus war unser Graben“, so die 66-jährige Argentinierin im Interview mit dem Argentinischen Tageblatt.
Sie und dreizehn weitere Krankenschwestern der argentinischen Luftwaffe waren während des Südatlantikkonflikts vom 2. April bis zum 14. Juni 1982 im Krankenhaus „Reubicable“ in Comodoro Rivadavia im Einsatz. „Viele Veteranen sagen mir: ‚Deine Kleidung wurde nicht mit Torf beschmutzt‘“, holt sie aus. „Ich antworte immer: ‚Nein, mit Torf nicht. Aber mit dem Blut derer, die von der Insel kamen.‘“
Der Titel „Veteranin“ wurde Alicia seitens der Streitkräfte bereits wenige Jahre nach Ende des Krieges verliehen - die Gerichte erkannten diesen jedoch nicht an. Ohne das vergangenen Jahres gefällte Urteil hätte sie beispielsweise keinen Anspruch auf die Veteranenrente gehabt. „Ich bin letztes Jahr bereits mit einer guten Rente in den Ruhestand getreten. Ich habe ein Haus, ein Auto, meine Töchter sind wohlauf - ich habe alles, ich brauche nicht mehr“, erzählt die in Gualeguaychú aufgewachsene Krankenschwester. Ihr ging es nicht um eine wirtschaftliche Begleichung der Schulden, die Anerkennung als Veteranin sei vielmehr eine „Ehrenschuld gegenüber der Beteiligung der Frauen in dieser Zeit“.
Kinder im Krieg
„Alicia ist jemand, wie soll ich sagen... Die hat Pfeffer im Hintern, die ist eine richtige Kämpferin“, erklärt Gisela Irene Bassler, die gemeinsam mit Alicia Reynoso im Feldlazarett in Comodoro Rivadavia tätig war. Anders als Alicia blieb Gisela nach dem Ende des Südatlantikkonflikts nicht in Argentinien. Der Krieg hatte sie emotional ausgelaugt und als sie die Möglichkeit sah, als Au-pair in Deutschland zu arbeiten, packte sie ihre sieben Sachen und wanderte im Februar 1983 in das Land ihrer deutschen Großeltern zurück. Geboren in Villa Ballester, einer Stadt in der Provinz Buenos Aires, wuchs sie in einem deutschen Umfeld auf. Das Militär faszinierte Gisela Bassler stets - warum, kann die Argentinierin mit deutschen Wurzeln selbst nicht erklären.
Nach Alicia ist nun auch Gisela dabei, die gerichtlich wirksame Anerkennung als Veteranin zu erfechten - vom Hospiz aus. 2015 wurde bei Gisela Bassler ein Tumor im Auge festgestellt. „Ich habe nicht mehr viel Zeit“, erklärt die ehemalige Militärkrankenschwester. Ihre Leber finge an, langsam auszusetzen. Ein Videogespräch ginge gerade noch.
Gisela Basslers Karriere als Militärkrankenschwester begann 1980 im Hospital der argentinischen Luftwaffe in Buenos Aires. Teil des Südatlantikkonflikts werden wollte sie damals nicht: „Ich hatte eine Waffe bekommen und mir war es in dem Moment so wider gewesen, weil ich gesagt habe: ‚Ich will niemanden töten.‘“ Diese sollte jedoch nur zur Verteidigung im Feldlazarett dienen. Dadurch, dass die heute 65-Jährige damals unter Militärgesetz stand, hätte sie bei einer Ablehnung des Dienstes „Probleme bekommen“, so Bassler selbst. Sie habe schon im Vorhinein gedacht: „Das sind Vollidioten, die schicken 18-jährige Kinder in ein unwirkliches Land. Kalt, feucht, diese ganzen Umstände, da habe ich gesagt: Das kann‘s nicht sein“, holt Gisela aus. „Und die kämpfen gegen eine Macht, die über Jahrhunderte Großmacht war; die es gewohnt ist, zu kämpfen.“
Gegen das Vergessen
Nach den Kriegserlebnissen wollte die mittlerweile in Ulm lebende Gisela nur eines: vergessen. „Ich wollte komplett abschließen. Ich wollte von Argentinien nichts mehr wissen, nichts mehr sehen, nichts mehr hören.“ Jahrzehntelang verdrängte sie die Zeit im Feldlazarett innerlich, bis im März 2011 eine Facebooknachricht bei ihr eintrudelte - von Alicia Reynoso.
Durch den Kontakt mit ihrer ehemaligen Kollegin erfuhr Gisela trotz der großen Entfernung von der Aufklärungsarbeit, die Alicia in Schulen sowie in den Medien leistet. Für Reynoso ist es ein Kampf gegen das Ausblenden der Frauen, die Soldaten im Malwinenkrieg pflegten und Leben retteten. „Wir wurden so sehr vergessen, dass wir fast aus der Geschichte getilgt wurden“, behauptet Alicia. Bei Feierlichkeiten rund um den Südatlantikkonflikt wurden laut Reynoso weder sie selbst, noch Gisela oder eine der weiteren ehemaligen Krankenschwestern des Hospitals „Reubicable“ eingeladen. Sogar die Teilnahme an einem Gedenkmarsch habe man ihr untersagt. Alicia artikuliert bestimmt: „Es ist eine Riesendiskriminierung. Das Schlimmste, was ein Soldat machen kann, ist nach dem Krieg seine Truppe zu vergessen.“
Alicia Reynosos Kampf gegen die Justiz sorgte in Argentinien für Zündstoff; schließlich befand sich das Feldlazarett nicht etwa auf den Malwinen selbst, sondern auf dem Festland, in der Provinz Chubut. Alicia Mabel Reynoso, Gisela Irene Bassler und ihre Kolleginnen betraten das Kampfgebiet nicht und wurden nie Teil einer direkten Kampfhandlung. Trotzdem entschieden die Richter der Bundeskammer für soziale Sicherheit im vergangenen Jahr, dass die Bedingungen ausreichend seien, um Reynoso als erste der 14 Krankenschwestern der argentinischen Luftwaffe den Titel „Veteranin“ zu gewähren. Ohne ihr Beharrungsvermögen und die Unterstützung des Anwalts Ezequiel Aníbal Mulvaj wäre dies schier unmöglich gewesen.
„Viele sagten mir: ‚Stell dich nicht so an, das ist keine große Sache‘“, erzählt die 66-jährige Reynoso. Seitdem die heute in Paraná lebende Argentinierin auf ihre Rolle im Südatlantikkonflikt aufmerksam macht, erhält sie Bedrohungen. „Sie hat den Herren der Schöpfung auf die Füße getreten. Das hat denen nicht gepasst, dass eine Frau aufsteht und sagt: Ich bin‘s auch“, so Gisela über Alicias Engagement. „Da hat sich in ihr wahnsinnig viel Wut gestaut, weil sie gesagt hat: 'Das kann nicht sein, dass die uns so behandeln.'“
Dass Alicia Mabel Reynoso beim Interview im Februar diesen Jahres trotz großer Hasswellen unversehrt am Tisch sitzt, schiebt sie auf ihre bewusst erzeugte Präsenz in den Medien: „Ich sage immer, dass ich der Presse auf ewig dankbar sein muss.“ Sie hält kurz inne, dann wird ihr Blick glasig: „Dank Euch bin ich am Leben.“
Lächeln und schweigen
Alicia und Gisela könnten unterschiedlicher nicht sein. Alicia ist entschiedene Patriotin, Gisela entfloh ihrem Geburtsland geradezu. Sie erzählt, dass sie Argentinien manchmal vermisse, die Wut über die Korruption und Misswirtschaft jedoch überwiegt. Was Alicia und Gisela verbindet, ist einerseits die gemeinsame Erfahrung im Krankenhaus der Luftwaffe und andererseits das, was danach passierte: das Verdrängen dieser Erinnerungen.
2010 hat Alicia versucht, sich das Leben zu nehmen. Danach kam sie in psychologische Behandlung, und zum ersten Mal sprach sie offen über die Zeit des Malwinenkriegs. „Ich konnte nicht glauben, was ich alles sagte“, so die ehemalige Krankenschwester. Durch die Therapie konnte sie eine Kiste öffnen, in der sie Fotos, Briefe und andere Erinnerungen aus der Zeit im Militärkrankenhaus aufbewahrte. Sie redete und redete und fing so an, diese Erinnerungen als ein Teil von ihr zu akzeptieren.
Auch Gisela suchte erst Jahrzehnte nach dem Dienst in Comodoro Rivadavia professionelle Hilfe auf: „In Gesprächen mit Anderen kam viel hoch, da habe ich gemerkt: Ich muss etwas machen.“ Die 65-Jährige ist gläubig, evangelisch. Eine christliche Seelsorgerin habe ihr bei der Aufarbeitung der Kriegserlebnisse geholfen.
„Du hast in den Gesichtern der Soldaten gesehen, dass sie verzweifelt, fix und alle waren. Die haben nach ihren Müttern und Freundinnen geschrien“, so Gisela. „Auf einmal sahen die uns und es war, als ob wir Engel für sie waren.“ Gisela beschreibt, dass das mediale Interesse an den Krankenschwestern der Luftwaffe in den ersten Wochen des Südatlantikkonflikts groß war. Es gibt aus der Zeit zahlreiche, professionell aufgenommene Fotos von Gisela und Alicia in Militärtracht - frei mit der Presse reden war jedoch Tabu. „Wir durften nichts sagen. Unsere Vorgesetzten haben über uns gewacht wie ein Luchs“, schildert sie.
Dass Frauen und andere Gruppen, die vermehrt Diskriminierung erfahren, als reine Aushängeschilder fungieren, ist selbst heute noch üblich. Gisela und Alicia wurden mundtot gemacht und sich dem zu widersetzen, hätte während der Militärdiktatur in Argentinien eine große Gefahr dargestellt. Gisela Bassler atmet zwar auf: „Ich bin Gott dankbar, dass keine von uns vierzehn sexuell missbraucht wurde oder verschwunden ist.“ Trotzdem hinterließ die Zeit im Feldlazarett Traumata. „Jeder einzelne ist mit psychischen Problemen zurück gekommen. Ob das alle so sagen, ist eine andere Frage“, so Alicia Reynoso.
Der Kampfgeist der beiden Frauen ist erstaunlich. Wenn das gerichtliche Veteranen-Zertifikat Alicia, Gisela und hoffentlich auch den übrigen ehemaligen Krankenschwestern zu einem gesunden Selbstbewusstsein verhilft, soll es ihnen gegönnt sein - ob mit oder ohne Matsch an den Stiefeln. (AT)
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