Ein Überblick über den Forschungsstand
Von Wim van Geenen
Buenos Aires (AT) - Über acht Monate nach dem Auftreten der ersten Corona-Fälle im chinesischen Wuhan zeichnen sich bei der Suche nach einem Impfstoff Fortschritte ab: Nach Angaben der WHO befinden sich derzeit 29 Impfstoffkandidaten in der klinischen Erprobungsphase, in 138 weiteren Projekten werden rund um den Globus präklinische Tests in Form von Labor- und Tierversuchen durchgeführt.
Damit ein Impfstoff sicher und zuverlässig wirkt, sind klinische Studien vor der Zulassung unumgänglich. Für gewöhnlich finden diese in drei Phasen statt. Von den 29 fortgeschrittenen Impfstoffkandidaten befinden sich sechs bereits in der abschließenden Phase III, zwei weitere haben Phase II erreicht. Ein vergangene Woche von Russland zugelassener Corona-Impfstoff („Sputnik V“) war international in die Kritik geraten, da ansonsten übliche Testphasen übergangen wurden. (Wir berichteten)
Die Pandemie setzt alle Beteiligten unter gesteigerten Zeit- und Innovationsdruck, erzeugt aber gleichzeitig gewaltige Forschungsschübe: Ansonsten jahrelange Testphasen werden auf Monate verkürzt, Milliarden an Fördergeldern überwiesen und Wissenschaftler wagen sich an neue, zuvor kaum verwendete Technologien. Das Argentinische Tageblatt porträtiert die vielversprechendsten Impfstoffvorhaben:
1) Astra-Zeneca/Oxford University:
Der an der Universität Oxford entwickelte Impfstoffkandidat „AZD1222“ besteht aus einem veränderten Adenovirus, mit Hilfe dessen ausgewähltes Genmaterial des Coronavirus in menschliche Zellen transportiert wird. Dort angekommen beginnen die Zellen mit der Produktion bestimmter Proteinbausteine aus der Hülle des Coronavirus (den sogenannten „Spikes“), auf welche das Immunsystem reagiert. Der Körper kann so mit einem entschärften „Nachbau“ des Virus trainiert werden und wird immun gegen das echte Virus.
Die klinischen Tests sind derweil in Phase III angelangt, die Studien sollen noch dieses Jahr abgeschlossen werden. Bei erfolgreichem Abschluss der Testphase soll der Impfstoff in Zusammenarbeit mit dem britisch-schwedischen Pharmakonzern Astra-Zeneca produziert und international vertrieben werden. Das Unternehmen teilte auf seiner Website mit, die EU-Kommission habe sich bereits 400 Millionen Dosen von „AZD1222“ gesichert, weltweit werde mit einer Nachfrage im Milliardenbereich gerechnet. Nach übereinstimmenden Medienberichten soll der Grundstoff des Impfstoffs für Lateinamerika in einer Fabrik des Unternehmens mAbxience in der Provinz Buenos Aires hergestellt werden.
2) Sinovac:
Im Gegensatz zur britischen Konkurrenz setzt das chinesische Unternehmen Sinovac auf einen Totimpfstoff, also ein Mittel, das aus nicht mehr vermehrungsfähigen Teilen des Erregers besteht. Ebenfalls bereits in Testphase III wird der Impfstoff derzeit an über 9000 Mitarbeitern des brasilianischen Gesundheitswesens getestet. Wie Sinovac auf seiner Website mitteilte, soll der Impfstoff nach Abschluss der Testphase in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Pharmaunternehmen Butantan hergestellt werden. Innerhalb Chinas hat der Impfstoff in bisherigen Studien nach Unternehmensangaben hohe Immunisierungsraten bei wenig Nebenwirkungen gezeigt.
3) Sinopharm:
An gleich zwei Totimpfstoffen forscht das ebenfalls chinesische Unternehmen Sinopharm, jeweils in Kooperation mit dem Peking-Institut für biologische Produkte und dem Wuhan-Institut für biologische Produkte. Beide Studien sind mittlerweile in der Phase III angekommen und werden laut Studiendesign in den Vereinigten Arabischen Emiraten an über 15.000 Personen getestet.
4) Moderna:
Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Moderna setzt auf einen neuartigen mRNA-Impfstoff, der sich derzeit ebenfalls in Testphase III befindet. Ähnlich wie beim Impfstoff der Universität Oxford und Astra-Zeneca gelangt dabei ausgewähltes Genmaterial des Coronavirus in menschliche Zellen, woraufhin diese anfangen, ungefährliche Bausteine des Virus zu produzieren, die vom Immunsystem erkannt werden. Der Körper immunisiert sich so gegen das Virus, ohne je mit ihm in Berührung gekommen zu sein. Auch wenn bisher noch kein mRNA-Impfstoff für Menschen zugelassen wurde, birgt die neue Methode viel Potential: Die Herstellung ist vergleichsweise günstig und unkompliziert, da keine reproduktionsfähigen Viren produziert werden müssen. Eine versehentliche Übertragung des Coronavirus ist damit ebenfalls ausgeschlossen. Unklar ist derzeit noch, welche Nebenwirkungen mRNA-Impfstoffe haben könnten.
5) BionTech/Pfizer:
Das auf individualisierte Krebstherapien spezialisierte Mainzer Biotech-Unternehmen BionTech arbeitet gemeinsam mit dem US-Pharmakonzern Pfizer ebenfalls an einem mRNA-Impfstoff. Das Mittel, genannt „BNT162b2“, durchläuft nach Angaben von Pfizer derzeit eine weltweite Phase III-Studie mit über 30.000 Teilnehmern; neben Deutschland gehört auch Argentinien zu den Teilnehmern. Der Wirkstoff habe in vorherigen Studien bereits eine hohe Immunisierungsquote bei geringen Nebenwirkungen gezeigt, so die Unternehmen in einer Pressemitteilung. Mit den ersten Auslieferungen wird noch in diesem Jahr gerechnet, mehrere Länder haben bereits Bestellungen über Millionen Dosen aufgegeben.
6) Cansino Biologics:
Der Kandidat des chinesischen Impfstoffunternehmens Cansino Biologics basiert ebenfalls auf einem modifizierten Adenovirus. Wie das Handelsblatt berichtet, habe der Impfstoff in einer Phase II-Studie eine „solide Immunisierung bei akzeptablen Nebenwirkungen“ erzeugt. Die Ergebnisse wurden im Fachjournal „The Lancet“ veröffentlicht. Für militärische Zwecke sei der Impfstoff in China bereits zugelassen, dennoch soll eine groß angelegte Phase-III-Studie folgen.
7) Curevac:
Als langjähriger Spezialist für Medikamente auf Grundlage der mRNA-Botenmoleküle beteiligt sich das Unternehmen mit Sitz in Tübingen mit dem Wirkstoff „CVnCoV“ am Wettlauf um die Corona-Impfung. Bereits im Juni wurde in Deutschland und Belgien die Zulassung zur klinischen Phase-I-Studie erteilt, die sich derzeit noch in der Durchführung befindet. Präklinische Tests hatten zuvor positive Resultate in Aussicht gestellt.
Das Unternehmen genießt breite finanzielle Unterstützung durch verschiedene Geldgeber: Laut einer Pressemitteilung kamen in der letzten Finanzierungsrunde 560 Millionen Euro zusammen – unter anderem von der deutschen Bundesregierung (über die KfW), GlaxoSmithKline und einem Staatsfond aus dem Emirat Katar.
8) Sanofi/GlaxoSmithKline:
Obwohl noch nicht in der klinischen Testphase angekommen, besteht international bereits großes Interesse an der Impfstoffkooperation des französischen Pharmariesen Sanofi mit dem britischen Unternehmen GlaxoSmithKline. Während Sanofi die Proteinbausteine für den Impfstoff liefert, soll GlaxoSmithKline einen Wirkverstärker beisteuern, der laut Unternehmensangaben auch schon bei der Grippeimpfung erfolgreich war. Eigenen Angaben zufolge hat das Unternehmen bereits begonnen, das sogenannte „Adjuvanz“ auf Vorrat zu produzieren. Laut einer Pressemitteilung beider Unternehmen werde derzeit mit der EU-Kommission über 300 Millionen Dosen verhandelt, auch die US-Regierung zeigte Interesse an 100 Millionen Dosen. Die Unternehmen rechnen mit einer Fertigstellung des Impfstoffs im Jahr 2021.
9) Novavax:
Das auf Impfstoff-Entwicklung spezialisierte US-Unternehmen Novavax hat für seinen Impfstoffkandidaten „NVX-CoV2373“ nach Abschluss der Phase-I-Tests ebenfalls positive Resultate verkündet. Der Wirkstoff sei gut verträglich und hätte „robuste“ Antikörperreaktionen hervorgerufen, so das Unternehmen auf seiner Website. Der ebenfalls auf Virus-Protein basierende Impfstoff wurde an zwei Standorten in Australien getestet. Mit allein 1,6 Milliarden US-Dollar von der US-Regierung will das Unternehmen eigenen Angaben zufolge seine Produktionskapazitäten erweitern und so – bei weiterhin erfolgreichen Tests – noch in diesem Jahr über 100 Millionen Einheiten des Impfstoffs produzieren.
Alle Fortschritte können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Impfstoffsuche längst nicht mehr nur Wissenschaft, sondern auch Weltpolitik ist: Der erste erfolgreiche Impfstoff wird dem jeweiligen Land einen erheblichen strategischen Vorteil verschaffen. Nicht zuletzt deshalb lässt sich eine besondere Konzentration des Engagements um den Impfstoff in China und den USA erklären.
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