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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Das Bewusstsein der extrem kritischen Lage

Von Juan E. Alemann

Melconian - CFK
Carlos Melconian und Cristina Fernández de Kirchner

Ältere Generationen haben schon mehrmals Perioden erlebt, in denen eine Form der Anarchie auftrat, mit einer Regierung, die die Lage nicht beherrschte und nicht die leiseste Ahnung hatte, was sie tun sollte, um die Normalität wieder herzustellen. Was danach kam, war eine Hyperinflationswelle (wie die von März 1976 und von Anfang 1989 und 1990) und in zwei Fällen auch ein Regierungswechsel. Nur Menem reagierte 1990 anders, indem er den Kurs verhärtete, erreichte, das das Parlament die Gesetze über Privatisierung und Staatsreform genehmigte, und danach einen erfolgreichen Kurs einschlug. Diese Möglichkeit steht jetzt nicht in Aussicht. Doch es gibt gelegentlich Überraschungen. Auch von Menem hatte man seinen Kurs, den er einschlug, nicht erwartet.

Das erste, was auf einen nahestehenden Zusammenbruch hindeutet, ist die Landesrisikorate von über 2.400, was bedeutet, dass niemand argentinische Staatstitel haben will, auch wenn sie jetzt um die 30% (in Dollar!) rentieren. Hinzu kommt der Sprung des schwarzen Dollarkurses, mit einer Zunahme der schon vorher hohen Differenz zum offiziellen Kurs. Auch das wird als Krisenzeichen gedeutet. Der Internationale Währungsfonds hat die Zahlen über die Staatsfinanzen des ersten Quartals 2022 genehmigt, und bei der kreativen Buchhaltung, die eingesetzt wurde, um das Defizitziel von 2,5% des BIP nicht zu überschreiten, ein Auge zugedrückt, so dass die vorgesehene Auszahlung an Argentinien, von u$s 4,1 Mrd. unmittelbar erfolgen soll.

Aber der IWF warnte, dass das zweite Quartal schwierigere Herausforderungen stellt und mehr getan werden müsse. Die Regierung gibt bisher keine Signale in diesen Sinn, und die Wirtschaftswelt fürchtet, dass es zu einem Zusammenstoß kommen wird und der Fonds seine Haltung so weit verhärtet, dass es schließlich doch zu einem Default kommt. Bis Cristina, Alberto u.a. deren Meinung in der Regierung von Gewicht ist, nicht verstehen, dass die Anpassung (“ajuste”) entweder geordnet vollzogen wird oder sonst ungeordnet und katastrophal erfolgt, gibt es keine Lösung. Ein Wort von Cristina könnte hier beruhigend wirken. Allerdings muss sie genau das Gegenteil dessen sagen, was sie bisher immer wiederholt hat.

Doch für den normalen Menschen, der in Argentinien wohnt, besteht das auffälligste Zeichen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs in der Preisanarchie. Für ein und dasselbe Produkt gibt es unterschiedliche Preise, mehr als normal. Der Wirtschaftsjournalist Nestor Scibona schreibt in seinem letzte Samstagsartikel in der Zeitung “La Nación”, dass seine Preiserhebung, die auf den gleichen 30 Produkten beruht, die im gleichen Supermarkt verkauft werden, in 12 Monaten zum Juni eine Zunahme von 81,6% aufwiesen. Die Differenz zur INDEC-Zahl, die bei fast 60% liegt, erklärt sich durch die künstlich niedrig gehaltenen Tarife öffentlicher Dienste und kontrollierte, bzw. eingefrorene Preise einer Reihe von Produkten. All das ist in der Erhebung von Scibona nicht eingeschlossen. Aber dieser bemerkt auch, dass es große Preisdifferenzen für gleiche oder analoge Produkte in verschiedenen Geschäften gibt, oft auch im gleichen, weit mehr als bisher. In der Tat kommt der Einzelhandel mit der Festsetzung der Preise gemäß Wiederbeschaffungswerten oft zu spät, und auch können die für den Einkauf Verantwortlichen nicht ständig die Wiederbeschaffungspreise ermitteln. Auch die angesehene Ökonomin Marina Dal Poggettto schreibt im Clarin vom Sonntag, dass die Preise verrückt geworden sind. Was bei den Preisen der Güter des täglichen Konsums der Haushalte geschieht, deutet auf eine höhere Jahresinflation hin, die auf alle Fälle bis Ende Jahr über 100% liegen dürfte, und dabei auch die Aussicht auf eine neu Hyperinflationswelle in die Nähe rückt. Dies wird auch dadurch angetrieben, dass mit einem Abwertungssprung gerechnet wird, der immer mehr unvermeidlich erscheint. Und auch durch Lohnerhöhungen, die die vergangene Inflation begleiten, wobei in den Verhandlungen vorgesehen wird, dass in einer zweiten Verhandlungsstufe eine weitere Zulage gewährt wird. Die Lohn-Preisspirale befindet sich auf vollen Touren, und das nimmt erfahrungsgemäß ein böses Ende. In einer Gesellschaft wie der argentinischen, die all dies schon mehrmals erlebt hat, kommt noch die Wirkung der selbsterfüllten Prophezeiung hinzu.

Auf dem Devisenmarkt ist ein besonderes Problem entstanden. Die ZB verfügt nicht über ausreichende effektive Reserven, um ein Defizit zu decken. Das Defizit besteht heute schon, wird jedoch noch einigermaßen verwaltet, so dass es nicht in Erscheinung tritt. Aber im zweiten Halbjahr rechnet man mit geringeren Exporten, weiter hohen Importen von Gas, Erdöl und Dieselöl (zu hohen Preisen), so dass mit einem hohen Fehlbetrag zu rechnen ist. Wenn die ZB nicht mit hohen Verkäufen auf dem Markt eingreift, dann springt der Kurs in die Höhe, bis dann ein Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage stattfindet. Der Sprung kann sehr hoch sein, sagen wir 50% und mehr, und das schafft noch mehr Unordnung und Ungewissheit, und wirkt als phänomenaler Inflationsfaktor.

Die Regierung, die sich dieser kritischen Lage voll bewusst ist, und hat jetzt die bestehenden Importrestriktionen verschärft, also einmal bei den nicht automatischen Importgenehmigungen verfügt, dass die zugelassenen Mengen verringert, und dann, dass noch mehr Finanzierung von den Lieferanten gefordert wird. Schon vor dem formellen Beschluss vom letzten Montag hatte die ZB die Zahlungen für Importe beschränkt, so dass sich auf dem Devisenmarkt ein Überschuss ergab, den die ZB kaufen konnte.

Diese Importrestriktion zu verwalten, ohne dass Knappheit bei vielen Teilen entsteht, die in einem Fabrikationsprozess eingesetzt werden, ist nicht einfach. Der neuen Produktionsminister Scioli hat einen guten Dialog mit dem Präsidenten des Spitzenverbandes der Industrie, Daniel Funes de Rioja, so dass die konfliktiven Einzelfälle, die unvermeidlich auftreten, behandelt werden können. Die ZB rechnet damit, dass diese Politik zu einem Überschuss auf dem Devisenmarkt führt, ist sich jedoch bewusst, dass das Problem nicht gelöst ist. Denn im 2. Halbjahr nimmt der Export ab, und andererseits bleibt der Importbedarf für Gas, Erdöl und Erdölprodukte hoch. Um bei Teilen für lokal erzeugte Industrieprodukte zu sparen, müsste die Produktion stark zurückgehen. Das bedeutet tiefe Rezession, und ist die klassische Lösung für das Problem. Doch genau das will die Regierung vermeiden oder zumindest mildern.

Gewiss könnte man viele importierte Zubehörteile auch in Argentinien herstellen. Doch das erfordert Investitionen, und dauert mindestens zwei Jahre. In früheren Zeiten waren die lokal erzeugten Kfz viel mehr mit lokal erzeugten Teilen integriert als jetzt. Es waren 80% bis 90% auf den Fabrikwert (ohne Steuern), gegen 30% bis 40% jetzt. Aber die Fahrzeuge waren viel teurer und die Qualität schlechter. Die argentinische Industrie hat sich in vielen Bereichen stark in die Welt integriert, und dabei Kosten gesenkt und ein gutes qualitatives Niveau erreicht. Doch genau das macht die Importsubstitution, die während des Krieges und lange danach betrieben wurde, nicht mehr möglich.

Auch Cristina Kirchner, die schließlich die letzten Entscheidungen in der Regierung trifft, ist sich zunehmend bewusst geworden, was auf die Regierung zukommt. Und sie scheint jetzt zu wissen, dass sie keine Lösung hat, und ihr Hauptberater bezüglich Wirtschaftspolitik, Axel Kicillof, auch nicht. Deshalb hat sie am Freitag der Vorwoche mit dem anerkannten Ökonomen Carlos Melconian gesprochen. Melconian leitet seit einigen Monaten das Ieeral-Institut, das von der Mediterránea-Stiftung abhängt, die von Grossunternehmen getragen wird. Es ist gewiss ein großer Fortschritt, dass Cristina mit Ökonomen spricht, die politisch nicht von ihr abhängen und ihr sagen können, was sie wollen. Es ist nicht sicher, ob und wie weit Cristina Melconian versteht, und wie sie seine Ausführungen und seinen eventuellen Rat (der nicht bekannt wurde) interpretiert. Zuerst müsste sie ihre Vorurteile und ihre Verschwörungstheorien aufgeben, und die Wirtschaft so verstehen,wie sie ist. Und das ist für sie alles andere als einfach.



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