Von Juan E. Alemann
Argentinien erlebt gegenwärtig ein vielfältiges Chaos. Die kommunistische Gewerkschaft der Reifenindustrie hat bei der Lohnverhandlung absurd übertriebene Forderungen gestellt, die die Unternehmen begreiflicherweise nicht angenommen haben, und dann ständige Unterbrechungen der Fabrikationsprozesse verfügt, die die Produktion etwa halbiert und schließlich zur Schließung der Fabriken geführt haben, so dass ein akuter Reifenmangel entstand, der die Fahrzeugfabriken zwang, die Produktion zu verringern und teilweise einzustellen, und auch Probleme bei den Lastwagenunternehmen u.a. hervorrief. Das Arbeitsministerium ließ es einfach geschehen. Beiläufig bemerkt: unter diesen Umständen gibt es in der Reifenindustrie kaum noch Investitionen, während Bridgestone gleichzeitig eine Rieseninvestition in Brasilien bekanntgibt, um die Produktion zu erweitern… und eventuell auch Argentinien zu beliefern.
Etwa gleichzeitig hat die Gewerkschaft der Lastwagenfahrer ein Unternehmen im Vorort Avellaneda überfallen und großen Schaden angerichtet, abgesehen davon, dass die betroffene Firma ihren Lastwagendienst unterbrechen musste. Wieder war der Staat abwesend. Es gab noch weitere Streiks, von denen man allgemein kaum Kenntnis nimmt, die jedoch störend wirken. So haben die Hafenarbeiter vor zehn Tagen gestreikt, nur um sich solidarisch mit einem Streik der Fahrer der Schlepper zu erklären. Für die Schifffahrtsunternehmen bedeutet jeder Streiktag einen Verlust von über u$s 20.000. Dabei hatte der Verband der Schifffahrtsunternehmen kurz vorher einer Lohnerhöhung zugestimmt, die der Inflation plus 10% entspricht, plus einem Bonus von 45% des Lohnes.
Streiks sind weltweit sehr selten geworden. Die Konflikte werden allgemein mit der Mitwirkung des Arbeitsamtes gelöst. Nur in Argentinien führen diese Konflikte zu Gewalt und Erpressung, ohne dass der Staat sich um eine friedliche und vernünftige Lösung kümmert.
Abgesehen davon gab es mehrere andere Konflikte. Eine zahlreiche Gruppe von angeblich armen Menschen, genannt “piqueteros”, liess sich auf der “9 de Julio” nieder, wo sie in Zelten übernachteten und den Verkehr und das normale Stadtleben störten und viel Schmutz hinterließen. Strafrechtlich handelt es sich um ein Verbrechen. Die Massenkundgebungen am Obelisk sind schon zur Gewohnheit geworden, und die Regierung tut nichts, um sie zu verhindern. Sie müsste denjenigen, die dort auftreten, zumindest die soziale Subvention entziehen, die viele erhalten, und auch Prozesse einleiten, und die Leiter sozialer Organisationen, die gleichzeitig hohe Staatsbeamte sind, schlicht rausschmeißen. Schüler von Sekundarschulen der Bundeshauptstadt besetzten mehrere Schulen und richteten Schaden an, was sie mit absurden Forderungen über die Qualität der Sandwichs u.dgl. mehr begründeten. So etwas kann nicht geduldet werden.
Schließlich, aber nicht zuletzt, kommt noch der Angriff auf Wohnungen und öffentliche Gebäude im Bezirk Mascardi, an der Kordillere, durch angebliche Mapuches, die schon eine große Fläche Land besetzt haben, und dabei einen historischen Anspruch auf den Besitz stellen, weil sie angeblich vor den Spaniern da waren. Das stimmt jedoch nicht. Sie sind lange nach den Spaniern gekommen, nämlich erst als das Land voll von Rindern und Pferden war, die von denen abstammten, die die Spanier im 16. und 17. Jahrhundert gebracht hatten. Außerdem sind die heutigen Mapuches sehr stark mit Nachkommen von Europäern vermischt, und unterscheiden sich äußerlich nicht von anderen Bewohnern der Gegend. Einer der Anführer heißt Jones Huala, also ursprünglich Jones Wallace, und ist Nachkomme von Einwanderern aus Wales, in Großbritannien. Die Mapuches, ursprünglich Araukaner benannt, haben zunächst die Techuelche-Indianer, die die Gegend von Bariloche, Lago Argentino und Umgebung bevölkerten, bekämpft und faktisch ausgerottet, und dann weitgehende Gegenden verunsichert, weil sie sich zu erstklassigen Reitern entwickelt hatten, und die Landwirte in den Provinzen Buenos Aires und La Pampa überfielen und ihnen Rinder und Pferde stahlen, gelegentlich auch Frauen mitnahmen. Das führte zum Feldzug, den General Julio A. Roca 1878 anführte, der sie besiegte und ihnen eine relativ große Fläche Land gab, damit sie sich niederließen, was ihnen jedoch nicht passte. Denn sie waren grundsätzlich Nomaden. Und die, die jetzt als Mapuches auftreten, sind zum größten Teil Verbrecher, und müssen als solche behandelt werden. Die Bundesregierung hat lange gewartet, bis sie mit Entsendung von Gendarmen reagiert hat, und behandelt diese Pseudo-Mapuches mit Samthandschuhen.
Bei den meisten Konflikten, die wir aufgezählt haben, und auch bei den zahlreichen vorangehenden, war der Staat abwesend, was besonders bei einer Regierung auffällt, dessen Ideologen Néstor und Cristina Kirchner die Präsenz des Staates betonen, und dies im Gegensatz zum Liberalismus stellen, der angeblich einen total passiven Staat befürwortet. Doch hier irren sie sich: der Liberalismus hat den modernen Staat geschaffen, mit einer Struktur, die die Macht der Regierung einerseits betont, aber andererseits begrenzt, durch das Parlament und die unabhängige Justiz, und auch durch Pressefreiheit.
Innerhalb dieses liberalen Staatskonzeptes muss sich der Staat an erster Stelle um Ordnung kümmern, also strikte Einhaltung der gesetzlichen Regelungen, konkret, der Verfassung und der Gesetze. Dekrete und Beschlüsse, die sie reglementieren. Und genau diese Staatsfunktion erfüllt der Kirchner-Staat nicht. Statt dessen mischt er sich in das Privatleben der Menschen ein, bestimmt, wie viel Devisen jeder kaufen kann, und zu welchem Kurs, verfügt Höchstpreise usw. Doch dort, wo der Staat effektiv eingreifen müsste, nämlich in den Lohnverhandlungen, ist er abwesend, und lässt Erpressungen und überhöhte Lohnerhöhungen passiv zu, die die Inflation antreiben und zu einer selbstbeschleunigenden Lohn-Preisspirale führen, die ohne Staatsintervention ein schlimmes Ende nimmt, lies Hyperinflation. Solange sich die Lohnverhandlungen mit der Verteilung des Gewinnes und Reformen befassen, die zu einer höheren Produktivität führen, von denen die Arbeitnehmer auch profitieren sollen, ist die Diskussion in Ordnung. Wenn sich jedoch Gewerkschafter und Unternehmer über Lohnzulagen einigen, die auf die Preise abgewälzt werden, so dass ein Dritter, nämlich der Konsument, die Zeche zahlt, muss der Staat intervenieren. Oder er müsste zumindest den Konsumenten eine Vertretung bei der Lohndiskussion einräumen.
Die Gesellschaft, sowohl die argentinische wie jede andere, verträgt chaotische Zustände nicht lange. Aristoteles sagte vor über zweitausend Jahren: wenn die Demokratie in Anarchie entartet, dann kommt die Diktatur. Genau das ist 1976 geschehen, als es anarchische Zustände gab, mit zunehmender Inflation und Terrorismus, den die damalige peronistische Regierung mit der Triple A bekämpfte, eine vom Staat organisierte Gruppe von ehemaligen Polizisten und Mördern, die Terroristen und linke Intellektuelle auf der Straße erschoss. Die Gesellschaft hat damals erleichtert aufgeatmet, als die Militärs kamen und Ordnung herstellten. Die politische Reaktion kam erst einige Jahre später, als die Militärs bei ihrer Bekämpfung des Terrorismus zu weit gingen, und dann die Malwinen besetzten, was zu einem Krieg führte, den Argentinien verlor.
Keine Lösung in Sicht
In früheren Zeiten hätten die Militärs angesichts des chaotischen Zustandes, der jetzt in Argentinien besteht, schon längst die Regierung übernommen, und die Bevölkerung hätte aufgeatmet und sich auf die Wiederherstellung geordneter Zustände gefreut. Doch jetzt gibt es einmal keine Streitkräfte, die in der Lage wären, die Regierung zu übernehmen. Die Streitkräfte sind von den verschiedenen demokratischen Regierungen stark verkleinert worden, und ebenfalls wurden sie gedemütigt, besonders schlecht bezahlt und ignoriert worden. Aber außerdem werden sich die Offiziere hüten, die Regierung zu übernehmen, nachdem diejenigen, die ab 1976 an der Regierung waren, und sich am Kampf gegen den Terrorismus beteiligten, prozessiert wurden, wobei viele zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden und andere mit Präventivhaft seit über zehn Jahren im Gefängnis sitzen. Der Kampf gegen den Terrorismus wurde dabei von der Justiz einem Mordangriff auf unschuldige Menschen gleichgestellt. Die Militärs wissen jetzt, dass sie nicht intervenieren dürfen.
Das Problem müssten jetzt die Politiker lösen. Und das fällt ihnen besonders schwer, da sie gewohnt sind, Kritik zu üben, die Schuld auf andere abzuschieben und Sündenböcke zu schaffen, aber nicht Entscheidungen zu treffen oder Mittel zu empfehlen, um das Chaos zu überwinden. Sie müssten sich dabei zunächst über die Rolle des Staates im Klaren sein und das liberale Konzept der Ordnung begreifen. Erst dann kann man an Wirtschaftspläne, Finanzpolitik u.dgl. mehr denken.
Innerhalb der Regierungspolitiker sind die Meinungen, was man jetzt tun müsste, gespalten. Cristina hat eine populistische Vorstellung, die sie auch nicht zu Ende gedacht hat. Im Patria-Institut und in der Cámpora-Gruppe haben viele eine extremere Position, die nicht weit entfernt von Kuba und Venezuela ist, und auf der anderen Seite denken Wirtschaftsminister Massa und die Ökonomen, die ihn begleiten, angefangen mit Gabriel Rubinstein, ganz anders. Sie streben eine aktive Inflationsbekämpfung an, haben mehr Verständnis für Marktwirtschaft, und sind, vor allem, rationell. Aber sie wissen auch, dass sie eine beschränkte Entscheidungsgewalt haben, und dass ein Wahljahr auf sie zukommt, bei dem die Wirtschaftspolitik normalerweise der Wahlpolitik unterstellt wird.
Innerhalb der Opposition, die mit mehreren sehr guten Ökonomen zählt, macht man sich Gedanken über den Übergang von der gegenwärtigen chaotischen Lage auf geordnete Zustände. Auch der Wirtschaftler Carlos Melconian, der jetzt die technische Leitung der Stiftung “Fundación mediterránea” übernommen hat, aus der seinerzeit Cavallo und seine Mannschaft hervorgegangen sind, arbeitet an einem Programm. All das ist positiv. Denn als Macri im Dezember 2015 antrat, gab es kein Wirtschaftsprogramm, so dass viel improvisiert wurde und am Schluss Cristina wiederkam.
Bei den Reformvorschlägen, die innerhalb des PRO, der UCR und auch der Coalición Cívica aufkommen, steht die Reform der Arbeitsgesetzgebung an erster Stelle. Dabei gibt es sehr interessante Initiativen, die in die gleiche Richtung gehen, die wir an dieser Stelle vertreten. Grundsätzlich handelt es sich um eine aktive Beschäftigungspolitik, die die Einstellung von legalen Arbeitnehmern nicht hemmt, wie es jetzt der Fall ist, und auch den Übergang von schwarz auf weiß möglich macht. Die Reform des Systems der paritätischen Lohnverhandlungen, wie wir sie befürworten und als unerlässlich betrachten, steht vorläufig nicht zur Diskussion. Das dürfte jedoch unvermeidlich aufkommen, wenn ein Stabilisierungsprogramm ausgearbeitet wird. Denn das bestehende System ist inflationär.Die PRO-Präsidentin Patricia Bullrich, die unter De la Rúa als Präsident zeitweilig Arbeitsministerin war, trägt jetzt ihre Erfahrung bei. In der Regierungskoalition scheut man hingegen dieses Thema, weil die Gewerkschaften grundsätzlich gegen Reformen der Arbeitsgesetzgebung eingestellt sind. Schließlich darf man nicht vergessen, dass der Peronismus ursprünglich eine Gewerkschaftspartei war.
Die unvermeidliche Rezession
In dieser schwierigen und hochkonfliktiven Lage kommt jetzt noch eine Rezession mit zunehmender Inflation hinzu, was weitere Probleme schafft. In der ersten Jahreshälfte hat sich die Wirtschaft noch ziemlich gut entwickelt, mit Zunahme des Bruttoinlandsproduktes und der Beschäftigung. Im Juli traten die ersten Zeichen einer Dämpfung der Konjunktur ein, und danach traten zunehmend Zeichen eines Rückganges der Wirtschaftsleistung auf. Die Ökonomen, die die Konjunktur verfolgen, sind sich darin einverstanden, dass eine rückläufige Konjunktur kommt, die sogar sehr bedeutend sein dürfte.
Gleichzeitig damit wird mit einer weiter steigenden Inflation gerechnet, nachdem sich die Lohn-Preisspirale immer schneller dreht. Die Reifenfabrikanten haben viel mehr zugestanden, als sie ohne eine kräftige Preiserhöhung verkraften können, und allgemein gelten jetzt jährliche Zunahmen um die 100% als Richtlinie, wobei auch die nächste Stufe schon in Aussicht steht. Wirtschaftsminister Massa will diese Erhöhungen nicht mit einer weichen Geldpolitik honorieren. Im Gegenteil, er zielt auf eine viel geringere Geldschöpfung hin, wie sie im IWF-Abkommen steht. Und das wirkt zunächst stark rezessiv, weil die Kostenerhöhungen dann nicht mehr so einfach auf die Preise abgewälzt werden können.
Ebenfalls bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die Importe quantitativ zu begrenzen. Industriesekretär De Mendiguren hat den Industrieunternehmern schon klar gesagt, dass sie ihre Importe von Rohstoffen und Zubehörteilen um ca. 20% verringern müssen. Das bedeutet jedoch, dass sie weniger produzieren. In einer Rezession geht die Gleichung auf. Sonst nicht.
Mit Rezession verschärft sich auch die soziale Lage, da dann viele Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlieren, zunächst die Schwarzarbeiter und dann auch andere. Wenn die Regierung diesem Problem mit Subventionen entgegenkommt, die schließlich eine höhere Geldschöpfung fordern, dann wird die Bekämpfung der Inflation noch schwieriger.
Schließlich kommt jetzt noch die Abkühlung der Konjunktur in den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union u.a. Ländern hinzu, als direkte Folge der Erhöhung der Referenzzinsen durch die Zentralbanken. Die USA haben es schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1980 so gemacht: Der damalige Fed-Präsident Paul Volcker, setzte eine so strenge Geldpolitik durch, dass die passiven Bankzinsen in den Vereinigten Staaten auf 20% (in Dollar!) stiegen. Das löste eine weltweite Rezessionswelle aus, die auch auf Argentinien überging, war aber schließlich erfolgreich: die Preise stiegen danach in den USA nur noch um ca. 2% jährlich, und der Erdölpreis ging auf ein Drittel zurück. Die Wiederholung dieser extremen Politik wird jetzt nicht erwartet, aber doch eine monetäre Verhärtung mit rezessiven Folgen. Und diese wirken sich auch auf Argentinien aus.
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