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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Blonde Haare, rosa Lippen

Vom Muttersein und Sein

Von Catharina Luisa Deege

Mutter
Lachend, mit blondem Haar und rosa Lippenstift: Meine Mutter weiß, was ihr steht. (Foto: cld)

Buenos Aires (AT) - Schaue ich in den Spiegel, so sehe ich meine Mutter. Und manchmal, wenn ich laut und unbesorgt lache, sehe ich vor meinem inneren Auge meine Mutter. Bringt mich ein trauriger Film zum Weinen, denke ich an meine Mutter. Und habe ich Heimweh, denke ich an meine Mutter und es wird noch viel schlimmer. Es gibt, und es wird sicherlich niemals eine Person geben, die mir näher sein könnte. Corinna Deege ist eine Frau, die das Muttersein nicht als Aufgabe und nimmer als Last deuten würde. Sie versteht sich nicht als unsere Freundin, sondern als unsere Mama. Und das ist das Beste, was sie für mich und meine drei Brüder sein könnte.

Es ist merkwürdig, einen Text über eine Person zu schreiben, die das eigene Leben derartig prägt. Selbstverständlich könnten Bücher, so zahlreich und so dick wie die Brockhaus-Enzyklopädien nicht ausreichen, um meine Mutter zu beschreiben. Würde ich sie ungefähr skizzieren wollen, finge ich wohl damit an, dass sie die Inkarnation der weiblichen Freiheit und Selbstbestimmung ist. Erzählt sie von ihrer Zeit in den USA, als sie in den Achtzigern für einige Jahre auswanderte und die Staaten bereiste, stelle ich sie mir in ihren selbstgenähten Kleidern auf den Straßen New Yorks vor, höre förmlich ihr breites Lachen und sehe sie im nächsten Moment unter der glühenden Sonne Kaliforniens in die Wellen des Pazifiks springen.

Dieses Gefühl von Freiheit hat meine Mutter so verinnerlicht, dass sie es meinen Geschwistern und mir niemals abgewöhnen könnte. Das Wort Hausarrest bringt in mir Unverständnis hervor. Wir Kinder wurden nie Opfer primitiver Erziehungsmethoden. Und das macht sich bemerkbar. Anstatt uns einzusperren, wurden uns Flügel geschenkt, und ich entschied, genauso wie meine Mutter, im Alter von 18 Jahren davonzufliegen. Raus aus dem Nest, Richtung Süden. Lang genug hatte Mama mich unter ihre warmen Fittiche genommen.

Obwohl uns heute viele tausende Kilometer trennen, werde ich ihr jeden Tag ähnlicher. Es zerreißt mir das Herz, dass sie nicht persönlich Zeugin dieses Prozesses sein kann. Andererseits fühle ich mich ihrem Amerika-Ich durch mein jetziges Leben in Argentinien näher. Ich bade zwar nicht am Strand von Venice Beach, dafür bin ich in sämtlichen Situationen hier unglaublich dankbar dafür, dass mir ihre Kreativität und das Geschick für Fremdsprachen mit in die Wiege gelegt wurden.

Nach ihrem Abenteuer in Nordamerika stürzte sie sich ins Familienabenteuer. Nach drei Jungs erwarteten mein Vater und sie schließlich ein kleines Töchterchen. „Unser Sohn ist doch eine Tochter“, heißt es auf auf dem Brief zu meiner Geburt, der an Freunde und Familie ging. Seitdem ist sie mein Zufluchtsort und ganz persönlicher Bodyguard. Ich erinnere mich an die Szene, als mich im Portugalurlaub vor drei Jahren ein Trickbetrüger übers Ohr haute. Vor einer Kirche in Lissabon wurde ich nach Wechselgeld gefragt. Dabei hatte der verehrte Herr heimlich in mein Portemonnaie gegriffen und mir sämtliche Geldscheine entwendet. Kurz danach stellte ich dies mit Erschrecken fest; und meine Mutter sprintete in Blitzgeschwindigkeit zu dem Mann, wies ihn lautstark zurecht und kam mit meinem kompletten Geld zurück.

Diese Akkumulation von Stärke, Mut und Ehrlichkeit in der Mutterfigur hat meinen Geschwistern und mir ein Frauenbild ermöglicht, welches dem Zeitgeist weit voraus ist. Ohne Blatt vor dem Mund und schlagfertig auf der einen, das Leben auf die leichte Schulter nehmend und zur Musik im Radio tanzend auf der anderen Seite; so kennt und liebt man Corinna Deege.

Seit Jahrzehnten findet man sie bereits frühmorgens, um kurz nach sechs in einer Kleinstadt nahe Hannover zurechtgemacht am Frühstückstisch sitzend. Zu Gymnasialzeiten kam ich jeden Morgen schlaftrunken durch die Küchentür und sah von hinten einen Zopf aus blondem Haar, der sich über eine schwarzen Bluse legte. Später am Morgen, kurz bevor wir gemeinsam zum Bahnhof gingen und ich meine Schuhe schon angezogen hatte, beobachtete ich, wie sie ihren rosa Lippenstift im großen Flurspiegel nachzog. Und jetzt frage ich mich, ob sie mich auch manchmal sieht, wenn sie in den Spiegel schaut.


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