Von Juan E. Alemann
Argentinien weist bedeutende soziale Probleme auf, die es gemäß seiner Wirtschaftsleistung, der umfassenden Alphabetisierung (mit einer minimalen Zahl von Analphabeten), einem Anteil von Technikern und Akademikern an der Gesamtbevölkerung wie in fortgeschrittenen Staaten, und einer Überproduktion an Lebensmitteln, nicht haben sollte. Dass etwa ein Drittel der Bevölkerung als arm eingestuft werden, und dieser Koeffizient auf über 50% bei Minderjährigen steigt, von denen viele unterernährt sind und dabei einen dauerhaften Schaden erleiden, dass die Arbeitslosigkeit zunimmt und an die 2 Mio. Menschen keine bezahlte Beschäftigung und noch viele mehr eine zu geringe haben, dass viele Menschen in Elendsvierteln oder sonst in erbärmlichen Blechhütten wohnen, dazu noch oft in Gebieten, die gelegentlich überschwemmt sind, und noch viele mehr keinen Anschluss an das Wassernetz und das Abwassersystem haben, all das sollte nicht sein.
Was wir hier erwähnen, kommt in der politischen Diskussion auf, bei der es um die Schuldfrage geht, aber die Lösungsmöglichkeiten werden kaum erwähnt. Ob Macri, Cristina oder sonstwer für diese Misere verantwortlich sind, hat keine Bedeutung. Wichtig ist, dass man sich überlegt, wie dieser Zustand überwunden werden kann. Und dabei sollten alle mitmachen. Macri hat auf mehreren Gebieten der Armutsproblematik Fortschritte erreicht, aber es war ein Tropfen auf den heißen Stein. Bei der Beschäftigungspolitik, die einen wesentlichen Teil der Armutsproblematik darstellt, stößt die Regierung auf die frontale Opposition der Gewerkschaften, der sich Oppositionspolitiker u.a. anschließen. Das Thema erfordert eine gute Aufklärung, mit Betonung der Vollbeschäftigung als Hauptziel. Das hat die Macri-Regierung bisher versäumt.
Die Arbeitslosigkeit ist seit vielen Jahren untragbar hoch, und ist im 1. Quartal 2019 weiter gestiegen. Vollbeschäftigung (mit einer Arbeitslosigkeit von bis zu 4% der aktiven Bevölkerung, die nur die sogenannte “friktionelle” Arbeitslosigkeit umfasst) ist die Grundlage der Überwindung der Armut, aber es ist nicht der einzige Aspekt.
Die jüngsten Zahlen des INDEC werden in Prozenten der Gesamtbevölkerung angegeben, die hier auf knapp 41 Mio. Menschen geschätzt wird, obwohl bei anderen offiziellen Schätzungen von 44 bis 45 Mio. die Rede ist. Merkwürdig. Der Zensus von 2010 hatte 40 Mio. Menschen ergeben, so dass man mit einer kumulativen Zunahme von 1% pro Jahr auf 44 Mio gelangt. In früheren Zeiten nahm die Bevölkerung sogar um 1,5% pro Jahr zu.
Die Entwicklung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit ab Anfang 2018 war (gemäss INDEC-Zahlen) in Prozenten der Bevölkerung wie folgt:
In Wirklichkeit ist das Bild noch schlimmer, weil diejenigen, die sich nicht um einen Arbeitsplatz bemühen (also bei Anzeigen hingehen und Schlange stehen) nicht als Arbeitslose eingestuft werden. Viele betrachten dies als sinnlos, nachdem sie schon oft stundenlang gewartet haben und dann abgelehnt wurden. Sie hoffen, eine Arbeit über Freunde oder Verwandte zu erhalten. Hinzu kommen dann noch viele Unterbeschäftigte, die kaum etwas zu tun haben und im Grunde auch Arbeitslose sind. Man kann somit gut zwei Prozentpunkte zur offenen Arbeitslosigkeit hinzuzählen.
Was in Argentinien nicht gemessen wird, ist die Dauer der Arbeitslosigkeit. Wenn eine hohe Arbeitslosigkeit andauert, kann man annehmen, dass der Anteil derjenigen, die schon 2 oder mehr Jahre arbeitslos sind, zugenommen hat. Diese Gruppe stellt das wirkliche Problem der Arbeitslosigkeit dar. Wer nur einige Monate arbeitslos ist, kommt irgendwie über die Runden, mit Reserven und/oder Unterstützung von der Familie und Freunden. Der Langzeitarbeitslose hingegen hat keine Reserven mehr.
Ebenfalls ist das Problem der jugendlichen Arbeitslosigkeit (Menschen von unter 29 Jahren) besonders schwerwiegend, weil diejenigen, die keine erste Arbeit haben, zunehmende Schwierigkeit haben, eine zu erhalten. Viele gehen dann auf die Kriminalität über, weil sie empfinden, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt. Der Koeffizient der jugendlichen Arbeitslosen ist bei Frauen von 32,1% im 4. Quartal 2018 auf 31,2% im 1.Quartal 2019 gefallen, bei Männern von 47,5% auf 46%. In beiden Fällen liegt der Koeffizient immer noch weit über dem allgemeinen, was auf ein Sonderproblem hinweist.
Die Macri-Regierung hat sich gleich am Anfang um diesen Fall gekümmert und ein Gesetzesprojekt im Kongress eingebracht, das für diese Gruppe eine Entlastung der Sozialabgaben einführte. Dagegen haben Gewerkschafter und Kirchneristen ohne triftigen Grund opponiert, und das Projekt kam nicht durch. Die Beschäftigungspolitik sollte eine Staatspolitik und nicht eine Parteipolitik sein. Das Thema kann eventuell ab 10. Dezember wieder vorgelegt werden, wenn Macri wiedergewählt wird und hier die Hilfe von Pichetto erhält. Die Regierung muss sich in solchen Fällen auch um die Unterstützung der Öffentlichkeit bemühen, was sie bisher nicht getan hat. Wer kann schon gegen die Erleichterung der Beschäftigung von Jugendlichen opponieren? Allein, mit der Senkung der Soziallasten ist das Problem nicht gelöst. Es muss mehr getan werden, um junge Menschen auszubilden, so dass sie sich für die Arbeitsplätze eignen, die die Wirtschaft heute bietet.
Obige Zahlen zeigen, dass die aktive Bevölkerung zugenommen hat. Viele Menschen, die vorher keine Beschäftigung im Abhängigkeitsverhältnis suchten, weil sie sich lieber um den Haushalt kümmerten oder den gebotenen Lohn als unbefriedigend ansahen, suchen jetzt eine bezahlte Arbeit. Es ist ein Fortschritt, wobei der Koeffizient jedoch im Vergleich zu anderen Ländern über 50% liegen sollte. Die Zunahme der aktiven Bevölkerung erklärt somit die Hälfte der Zunahme der offenen Arbeitslosen. Das erklärt auch, dass die Beschäftigung trotz höher Arbeitslosigkeit zugenommen hat.
Die Regierung und auch die privaten Ökonomen gehen grundsätzlich davon aus, dass die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit im Wachstum der Wirtschaft besteht. Im Prinzip schafft Wachstum gewiss Arbeitsplätze, aber es kann heute, als Folge der Computertechnologie, mit allem was dazugehört, wie u.a. die Automatisierung der Produktionsprozesse und die Erhöhung der Leistung des Arbeiters oder Angestellten, auch hohes Wachstum mit einer geringen Zunahme der Beschäftigung geben. Eine integrale Beschäftigungspolitik muss versuchen, arbeitsintensive Tätigkeiten zu fördern und auch solche innerhalb der Arbeitsgesetzgebung möglich zu machen, die instabil sind, und/oder nur bei geringeren Löhnen möglich sind. Das ist in der bestehenden Arbeitsgesetzgebung nicht vorgesehen.
Produktions- und Arbeitsminister Dante Sica hat anlässlich der diesjährigen Konferenz der internationalen Arbeitsorganisation (OIT) in Genf erklärt, dass die Erhöhung der Beschäftigung eine Reform der Arbeitsgesetzgebung erfordere. Es ist positiv, dass er das Thema aufgeworfen hat, statt es zu ignorieren, wie es bisher üblich war. Dabei hat er nur einige Punkte erwähnt, jedoch das Wichtigste unterlassen: dass die Probezeit, während der ein Arbeitnehmer ohne Entschädigung entlassen werden kann, allgemein von jetzt 3 Monaten auf 2 Jahre erhöht werden muss. Die instabilen Arbeitsplätze, und solche, die es eventuell sein können, müssen auch besetzt werden können.
Sica hat beiläufig auch darauf hingewiesen, dass die Lohnverhandlungen eine Dreierverhandlung sei, d.h. eine zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern und dem Staat. Das ist ein konzeptueller Fortschritt, nachdem bisher nur von einer freien Verhandlung zwischen Unternehmern und Gewerkschaftern die Rede war. Bei den Arbeitsabkommen muss vermieden werden, dass Lohnerhöhungen auf die Preise abgewälzt oder mit staatlichen Subventionen gedeckt werden, so dass sich die Parteien einigen und ein Dritter, der Konsument, die Zeche bezahlt. Außerdem muss die Beschäftigungsproblematik berücksichtigt werden, was gegenwärtig nicht der Fall ist. Der Staat hat bei Verhandlungen über die Erneuerung der Arbeitsverträge viel zu sagen. Die Gewerkschaften kümmern sich bezüglich Beschäftigung nur um die Erhaltung der bestehenden Arbeitsplätze und plädieren dabei für ein Entlassungsverbot, das in vielen Fällen eine unhaltbare Lage schaffen würde. Aber um die Schaffung neuer Arbeitsplätze, auch wenn sie nicht so gut wie die bestehenden sind, kümmert sich kein Gewerkschafter.
Sica erwähnte auch das Problem der hohen Schwarzarbeit und erinnerte daran, dass die Regierung ein Projekt im Kongress eingebracht habe, das bisher nicht durchgekommen ist. Das Regierungsprojekt löst jedoch das Problem nicht. Es ist für den Unternehmer, der seine Belegschaft schwarz beschäftigt, viel zu kostspielig, so dass er faktisch nicht von schwarz auf weiß übergehen kann. Die Regierung sollte das Thema gründlich studieren und bei der Weißwaschung großzügig sein. Nebenbei bemerkt: die Ermittlung der Zahl der Schwarzarbeiter beruht auf einer Umfrage, bei der die Befragten sagen, was sie wollen, wobei es keine Rückfragen gibt. Die Zahl ist somit sehr ungenau, anders als bei den eingetragenen Arbeitern, die die ANSeS statistisch erfasst.
Grundsätzlich sollte man sich überlegen, warum es so viele Schwarzarbeiter gibt. Das ist eine direkte Folge einer Arbeitsgesetzgebung, die die Arbeit so stark verteuert, dass die Rechnung nicht aufgeht. Gewiss: die Soziallasten lassen sich nicht verringern, weil schon jetzt die Einnahmen des Pensionssystems nur ausreichen um etwa die Hälfte der Pensionen und Hinterbliebenenrenten zu decken. Aber Entlassungsentschädigungen und Zahlungen für Arbeitsunfälle und -krankheiten, die der Berechnung des Beitrages zu den ART-Versicherungsgesellschaften zu Grunde liegen, können verringert werden. Und auch die Löhne, die Arbeitszeiten u.a. Aspekte der Arbeitsregelung können flexibler gehandhabt werden, wie es bei schwarz tätigen Unternehmen in extremer Form der Fall ist.
Die Regierungsmannschaft allein ist nicht in der Lage eine umfassende Lösung für das Beschäftigungsproblem auszuarbeiten, umso mehr als die Fachbeamten des Arbeitssekretariates im Wesen wie die Gewerkschaftler denken. Unabhängige Arbeitsrechtler und Ökonomen müssen zu Rate gezogen werden. Denn es bedarf wirklich revolutionärer Vorschläge, wie wir sie an dieser Stelle ständig vorbringen, um die Arbeitslosigkeit kurzfristig und dauerhaft so weit zu verringern, dass man dem Ziel der Vollbeschäftigung immer näher kommt.
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