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Ausgeblendetes Jubiläum

Die Gründung des deutschen Nationalstaats jährte sichzum 150. Mal

Von Marcus Christoph

Das berühmte Gemälde von Anton von Werner zur Reichsgründung. Im Mittelpunkt Otto von Bismarck in der weißen Uniform
Das berühmte Gemälde von Anton von Werner zur Reichsgründung. Im Mittelpunkt Otto von Bismarck in der weißen Uniform. (Foto: mc)

Berlin (AT) - Wer am 25. Mai 2010 zum „Bicentenario“ in Argentinien weilte, wurde Zeuge einer aufwendigen Feier zum 200-jährigen Bestehen der argentinischen Nation. Ein großes Volksfest, dazu die wichtigsten Staatsgäste aus der Region zu Gast - dies sorgte dafür, dass die Erinnerung an die Mairevolution von 1810 allgegenwärtig war.

Der Kontrast, mit dem Deutschland in diesem Jahr auf das Datum seiner Nationalstaatsgründung zurückblickte, hätte dazu nicht größer sein können. Als sich die Proklamation des deutschen Kaiserreichs am 18. Januar dieses Jahres zum 150. Mal jährte, erinnerte in der deutschen Öffentlichkeit kaum jemand an das historische Geschehen. Die Deutsche Presse Agentur (dpa) etwa, von welcher das Tageblatt viele Texte über Deutschland bezieht, brachte in ihrem überregionalen Dienst nicht eine einzige Kurzmeldung - und auch in den Hauptnachrichtensendungen des deutschen Fernsehens war praktisch nichts dazu zu hören oder sehen.

Dabei ist die staatsrechtliche Kontinuität der Bundesrepublik mit dem Deutschen Reich vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung festgestellt worden. Deutschland hatte also als Nationalstaat in diesem Jahr ein rundes Jubiläum, an das sich aber kaum jemand erinnern wollte.

Dieser im Vergleich zu anderen Staaten eigentümliche Umgang mit der eigenen Geschichte hat seine Ursache nicht nur in dem Umstand, dass der ohnehin im trüben Winter gelegene Jahrestag in diesem Jahr auch noch in die Zeit strenger Corona-Beschränkungen fiel. Es geht vielmehr tiefer und spiegelt die gebrochene Geschichte wider, die Deutschland seit 1871 erlebt hat.

„Nach einer nationalen Feier der Reichsgründung verlangt, so mein Eindruck, heute niemand. Der 18. Januar ist kein Datum, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wirklich präsent ist“, formulierte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Abend mit Historikerinnen und Historikern im Schloss Bellevue. Und weiter: „Die heutigen Deutschen stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmälern und Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche. Sie sind an vielen Orten zwar im Stadtbild präsent, aber sie entfalten keine prägende Kraft mehr“, urteilte das Staatsoberhaupt.

Siegessäule
Die Siegessäule in Berlin erinnert an die Einigungskriege. (Foto: mc)

Zwischen uns und dem damals maßgeblich von Otto von Bismarck geschaffenen Staatsgebilde liegen zwei verheerende Weltkriege und das Menschheitsverbrechen des Holocausts. Das verdunkelt natürlich den Blick. Doch schon das Zustandekommen der Reichseinigung unter der preußischen Pickelhaube entsprach nicht dem, was sich die im 19. Jahrhundert aufgekommene demokratische Nationalbewegung ursprünglich erhofft hatte. Die Revolutionäre von 1848 erstrebten Freiheit und Einheit zugleich. Ihnen fehlte jedoch die reale Macht, diese Ziele auch tatsächlich durchsetzen zu können.

Bismarck als preußischer Ministerpräsident hatte knapp zwei Dekaden später den nötigen Einfluss. Doch hatte der preußische Junker nicht im Sinn, nachhaltige demokratische Strukturen im Land zu schaffen. Vielmehr ging es ihm in erster Linie um die Ausdehnung des preußischen Machtbereiches. „Reden oder Majoritätsbeschlüsse“ wie 1848/49 hingegen geringschätzte er. Stattdessen setzte er auf „Blut und Eisen“, um die „großen Fragen der Zeit“ zu lösen.

Dieser 1862 im preußischen Abgeordnetenhaus abgegebenen Erklärung folgten bald Taten. Durch Kriege gegen Dänemark, Österreich und schließlich Frankreich schaffte Bismarck den machtpolitischen Rahmen, das Deutsche Reich als neuen Machtfaktor in der Mitte Europas zu installieren. Schon diese kriegerische Komponente läuft dem heutigen Empfinden, das vom Bemühen um europäische Integration geprägt ist, zuwider.

Damalige Zeitgenossen störte dies indes weniger. Auch wenn die Reichsgründung „von oben“ zustande kam, entfaltete sich recht bald eine allgemeine Begeisterung für den neuen Nationalstaat. Die Figur des Reichsgründers erfuhr spätestens nach dessen Abtritt von der politischen Bühne im Jahre 1890 eine geradezu kultische Überhöhung - zum Teil auch als Gegenpol zum großspurig auftretenden neuen Kaiser Wilhelm II.

Das Bismarck-Mausoleum in Friedrichsruh bei Hamburg
Das Bismarck-Mausoleum in Friedrichsruh bei Hamburg. (Foto: mc)

Mit dem Krieg 1864 gegen Dänemark hatte Bismarck nationale Gefühle bedient, durch die siegreiche Auseinandersetzung mit Österreich 1866 die preußische Vorherrschaft innerhalb der deutschen Landen gesichert. Dem neu geschaffenen Norddeutschen Bund eilten auch die süddeutschen Staaten zur Hilfe, als mit Frankreich ein gemeinsamer äußerer Feind auftauchte. Den Konflikt hatte Bismarck durch eine Intrige eingefädelt - und der Plan ging auf.

Der Krieg war noch nicht vorbei, da wählte Bismarck das historische Datum der preußischen Königskrönung aus, um den preußischen König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser zu proklamieren. Dessen Vorfahre Friedrich III. von Brandenburg hatte sich am 18. Januar 1701 in Königsberg als Friedrich I. zum ersten König in Preußen gekrönt.

Wilhelm sträubte sich gegen die Rolle, die Bismarck ihm zudachte. Der Monarch sah sich selbst das alte Preußen zu Grabe tragen. Doch sein Ministerpräsident trickste. Bismarck überzeugte den bayrischen König Ludwig II, den sogenannten „Kaiserbrief“ zu verfassen. Darin wurde Wilhelm aufgefordert, „Präsidialrechte über alle deutschen Staaten“ auszuüben. Ein Angebot, das Wilhelm nicht so einfach ausschlagen konnte, wie es 1849 sein Bruder Friedrich Wilhelm IV. getan hatte, als die Frankfurter Nationalversammlung ihm die deutsche Kaiserwürde antrug. Der Bayer kassierte für seine Unterordnung unter den Preußenkönig ein hübsches Sümmchen. Er brauchte Geld für seine Märchenschlösser. Bismarcks schwarze Kasse soll sich unter anderem aus dem Vermögen des 1866 von Preußen annektierten Königreichs Hannover gespeist haben.

Zwar war die Verfassung des neuen Deutschen Reichs bereits am 1. Januar 1871 in Kraft getreten. Doch prägte sich die Kaiserkrönung des preußischen Königs als eigentliches Gründungsdatum im allgemeinen Bewusstsein ein. Das so entstandene politische Gebilde gilt als erster Nationalstaat auf deutschem Boden. Das 1806 von Napoleon zu Grabe getragene „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ hatte sich als übernationaler Dachverband zahlreicher Territorien nicht zu einem Nationalstaat entwickelt.

Während Bismarck 1866 den Hauptkriegsgegner Österreich nach dem siegreichen Waffengang schonte, zeigte er sich nach dem Deutsch-Französischen Krieg als schlechter Gewinner. Alleine die Wahl des französischen Königspalastes in Versailles, wo sich in jenen Wochen das Hauptquartier der deutschen Armee befand, zum Ort der Kaiserproklamation zeugte nicht gerade von politischem Fingerspitzengefühl. Im Gegenteil: Die Franzosen fühlten sich zutiefst gedemütigt. Hinzu kam noch die Annexion Elsass-Lothringens, was dazu führte, dass dem Deutschen Reich von Anfang an ein verbitterter „Erbfeind“ gegenüberstand, der nur darauf wartete, eines Tages Revanche üben zu können. Die Friedensverhandlungen nach dem für Frankreich siegreichen Ersten Weltkrieg fanden bezeichnenderweise in Versailles statt. Auftakt der Veranstaltung im Jahr 1919 war der 18. Januar.

Der Sarkophag des Reichsgründers
Der Sarkophag des Reichsgründers. (Foto: mc)

Zwar hatte es Bismarck in der Folgezeit durch geschickte Bündnispolitik vermocht, Frankreich in Schach zu halten. Doch als Wilhelm II. später begann, die deutsche Flotte auszubauen, um Deutschlands weltpolitische Ambitionen zu untermauern, musste dies die Seemacht England herausfordern. Törichte deutsche Politik und Großmannssucht begünstigte etwas, was die Jahrhunderte zuvor undenkbar schien: Eine Allianz von Briten und Franzosen. Der außenpolitische Weg des Reiches indes führte zusehends in die Isolation.

Während Bismarck außenpolitisch Frankreich als Feind installierte, rieb er sich innenpolitisch mit der katholischen Kirche und den Sozialdemokraten. In beiden Auseinandersetzungen konnte er sich letztlich nicht durchsetzen. Die Katholiken schufen sich mit dem Zentrum eine einflussreiche politische Gruppierung. Der Aufstieg der SPD zur stärksten Partei im Kaiserreich ließ sich auch durch die Verbote der Sozialistengesetze nicht bremsen.

Um den Sozialdemokraten das Wasser abzugraben, hatte Bismarck eine für damalige Verhältnisse fortschrittliche Sozialgesetzgebung auf den Weg gebracht und somit die Grundlagen für den deutschen Sozialstaat gelegt. In der Gesetzgebung und Rechtsprechung steht das heutige Deutschland in der Tradition des Kaiserreichs, wie auch Steinmeier herausstellte.

Was die Einführung eines allgemeinen Wahlrechts für Männer (noch nicht für Frauen) betrifft, war das Kaiserreich im internationalen Vergleich durchaus modern. Allerdings fehlte es dem Parlament an Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Bismarck war als Reichskanzler nur dem Kaiser gegenüber verantwortlich. Bei Wahlen musste er nicht um sein Amt fürchten. Tatsächlich übte auch später niemand so lange das Amt des Kanzlers aus wie Bismarck, der dies 19 Jahre lang tat.

Verheerend für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte war die Verherrlichung alles Militärischen im Deutschen Reich. Untertanengeist statt mündiger Bürger - diese Haltung war die mentale Voraussetzung für den Weg in spätere Katastrophen. Der freiheitlich-demokratische Geist der 1848er-Revolution blieb auf der Strecke. Wie sich überhaupt der Begriff des Nationalen von emanzipatorisch hin zu reaktionär wandelte.

In Friedrichsruh bei Hamburg zeigt die Otto-von-Bismarck-Stiftung derzeit in einer Sonderausstellung, wie die Erinnerung an die Reichsgründung verschiedene Phasen durchlief. Im Kaiserreich wurde die Nationalstaatsgründung vor allem positiv gesehen. Als Gedenk- und Feiertag an das historische Geschehen setzte sich indes nicht der 18. Januar, sondern „Sedantag“ am 2. September durch, der an die siegreiche Schlacht 1870 bei Sedan gegen die Franzosen erinnerte.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erinnerte an die Reichsgründung. (Foto: dpa)

In der Ausstellung wird erläutert, wie in der Weimarer Republik deren Anhänger auf Distanz zum wilhelminischen Kaiserreich gingen, die politische Rechte hingegen die vergangenen Zeiten verherrlichte. Die Nationalsozialisten präsentierten sich zunächst als Erben und später, nach dem Anschluss Österreichs, gar als Vollender der Reichseinigung: die „großdeutsche“ Lösung unter Einschluss Österreichs, welche von Bismarck noch ausgeschlossen worden war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in West und Ost unterschiedliche Sichtweisen auf Kaiserreich und Reichsgründung. Die DDR, die in der Anfangszeit noch am Ziel der einen deutschen Nation festhielt, sah das Kaiserreich von Anfang sehr negativ. Nicht zufällig war die Verfilmung des Romans „Der Untertan“ von Heinrich Mann eines der ersten großen Filmprojekte des DDR-Filmunternehmens DEFA. Dabei wird der Untertanengeist der wilhelminischen Epoche aufs Korn genommen. Das Kaiserreich galt nach DDR-Lesart als imperialistischer und reaktionärer Staat, der die Arbeiterklasse unterdrückte.

In der Bundesrepublik herrschte zunächst eine positive Deutung vor, ehe ab Ende der 60er Jahre eine kritische bis negative Sichtweise aufkam. In Letzterer erscheint Bismarck als Wegbereiter Hitlers. Das Kaiserreich steht demnach am Anfang eines Irrweges, der geradewegs in den Höllensturz führte. Auf dem anderen Ende der Skala historischer Interpretationen steht eine Auffassung, die die modernen Ansätze des Kaiserreichs betont und dieses in mancherlei Hinsicht als Vorläufer der Gegenwart betrachtet.

Einer differenzierten Sichtweise redete am diesjährigen Jahrestag Frank-Walter Steinmeier das Wort: „Kontinuität und Zwangsläufigkeit sind eben nicht dasselbe. Ja, es gibt sie, die Heerstraße, die alle Kriege von 1871 bis 1945 verbindet. Doch das heißt nicht, dass es keine Wege gab, die in andere Richtungen und zu anderen Entwicklungen hätten führen können und die man hätte beschreiten können. Wer die Geschichte nur vom Ende her liest, vergibt jede Chance auf Erkenntnis und übersieht Handlungsspielräume und auch persönliche Verantwortung.“

Geschichtsort Düppeler Schanzen in Nordschleswig (DK), wo 1864 die entscheidende Schlacht im deutsch-dänischen Krieg stattfand
Geschichtsort Düppeler Schanzen in Nordschleswig (DK), wo 1864 die entscheidende Schlacht im deutsch-dänischen Krieg stattfand. (Foto: mc)

Der 18. Januar 1871 ist ein sehr ambivalentes Datum. Einerseits schafften es die Deutschen - viel später als ihre westlichen Nachbarn - sich in einem Nationalstaat zu organisieren. Andererseits steht es nicht für die demokratischen Traditionslinien der deutschen Geschichte, auf die sich das heutige Deutschland beziehen kann. In diesem Zusammenhang sind Revolution von 1848/49, die Gründungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik, die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR sowie die Wiedervereinigung von 1990 wichtigere Anknüpfungspunkte. Ganz ausblenden darf man die Reichsgründung und ihre Bedeutung für die neuere Geschichte aber auch nicht.


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