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  • Foto del escritorArgentinisches Tageblatt

Aus dem Schmerzhaften schöpfen

Im Gespräch mit Regisseurin Alison Kuhn

Von Catharina Luisa Deege

Alison Kuhn
Ihr erster Langfilm wurde bereits mehrfach preisgekrönt: Alison Kuhn. (Foto: Christian Zipfel)

Buenos Aires/Berlin (AT) - Fünf Frauen starren mir in die Augen. In ihren Gesichtern sehe ich Härte, eine subtile Wut, keineswegs jedoch Verletzlichkeit. Sie sind aufgewacht, haben sich erhoben - und nun das Zepter selbst in der Hand. In „The Case You“, einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2020, ergründet Regisseurin Alison Kuhn gemeinsam mit fünf Schauspielerinnen die verschiedenen Gesichter von Grenzüberschreitung und Machtmissbrauch. Kernstück der Produktion der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf ist dabei ein Schauspiel-Casting, an dem die Protagonistinnen sowie die für Drehbuch und Regie zuständige Kuhn selbst vor einigen Jahren teilnahmen.


Eine verdrängte Erinnerung

Von unmenschlicher Behandlung über emotionale Manipulation, bis hin zu Berührungen im Intimbereich - für viele Teilnehmerinnen war das Auswahlverfahren des bekannten, im Film jedoch unbenannten Regisseurs ein traumatisches Erlebnis. Daran erinnert wurde Alison Kuhn ausgerechnet an dem ersten Tag ihrer Regie-Aufnahmeprüfung an der renommierten Filmuniversität Babelsberg, an der die 26-Jährige heute noch studiert. Doch gerade die Konfrontation mit diesem unangenehmen Erlebnis gab der in Saarbrücken geborenen Schauspielerin und Autorin den Ansporn, diese bisher verdrängte Erfahrung eines Tages in ein audiovisuelles Werk zu verwandeln: „Für mich ist eigentlich eines der Mottos des ganzen Films: etwas Unangenehmes nehmen und etwas Konstruktives daraus machen. Das hat für uns alle wunderbar funktioniert.“

Mit „uns alle“ dürfte sie vor allem die Protagonistinnen Isabelle Bertges, Gabriela Burkhardt, Aileen Lakatos, Lisa Marie Stojčev und Milena Straube meinen. Ich frage Kuhn bei unserem Videogespräch, ob es schmerzhaft war, dieses Casting während der Dreharbeiten gemeinsam Revue passieren zu lassen. „Es war natürlich wahnsinnig emotional und aufwühlend und anstrengend“, holt die Regisseurin aus und erzählt danach besonnen, dass Protagonistin Aileen einmal sagte, wie sehr ihr durch die Dreharbeiten „ein Gewicht von den Schultern genommen wurde.“ Die Schauspielerinnen hätten das Geschehene laut Kuhn „irgendwie in diesem Theatersaal gelassen.“

„The Case You“ ist ein Zusammenschnitt aus Interviews, performativer Improvisation und einer Rekonstruktion des Erlebten, welcher dem Zuschauenden verständlich und einprägsam die Casting-Situation und all‘ den daraus resultierten Emotionen und Erzählungen näherbringt. Nur fünf Tage drehten Alison Kuhn und ihr Team (Kamera: Lenn Lamster, Ton: Larissa Kischk, Szenenbild: Franziska Herbes und Lucia Eifler, Produzent: Luis Morat) den 80-minütigen Dokumentarfilm.

Die Projektteilnehmerinnen kannten sich vor dem Dreh kaum persönlich. Entstanden sind im Nachhinein Freundschaften, bestätigt Alison Kuhn: „Bei so einem harten Thema ist das schön, dass wir uns Freundschaft und auch irgendwie Leichtigkeit geben.“ Sie spiegelt mir die fünf Drehtage als eine zwar aufbrausende, aber auch angenehme Zeit wider: „In dem Theatersaal war es natürlich unglaublich konzentriert und anstrengend, aber wenn wir dann die Tür aufgemacht haben und rausgegangen sind, etwa zusammen gegessen haben, dann war auch alles sehr leicht.“

Der Film von Alison Kuhn zeigt jedoch auch, dass es den Frauen darum geht, rechtlich etwas zu bewirken - denn einige der Schauspielerinnen sind nicht nur Opfer, sondern auch Klägerinnen. Schon seit mehreren Jahren hangeln sie sich im Kleinschritt durch verschiedene Verfahren und versuchen, das Geld für die Klage gegen die für das Casting Verantwortlichen einzuholen. Ob dies erreicht werden kann, bevor der Fall verjährt, ist bis heute noch offen.


Ein fataler Irrtum

Kuhn, die schon in mehreren Produktionen selbst vor der Kamera stand, erlebte glücklicherweise bisher kein ähnlich einschneidendes Auswahlverfahren mehr. Sie spricht mittlerweile aber auch Klartext, sobald sie ähnliche Machtspiele oder Ungleichheiten identifiziert. Die Darstellerin erzählt mir von einem anderen Casting, bei dem sie die Stimme erhob. Der Umgang mit den Bewerber*innen erschien ihr nicht gerecht: „Ich habe gesagt: ‚Könnt ihr euch bitte vorstellen? Kannst du sagen, wer du bist, was du machst, und was ich jetzt hier mache?‘“ Im Nachhinein schickte sie sogar eine E-Mail mit Verbesserungsvorschlägen an die Zuständigen.

Hierarchien existieren in so ziemlich allen Berufsfeldern und Lebenskontexten. Doch besonders im künstlerischen Milieu besteht ein verheerendes Missverständnis, erklärt mir Alison Kuhn: „Gerade in der Schauspielbranche ist es natürlich schwierig, weil sich das Private vom Beruflichen oftmals nicht so offensichtlich trennen lässt. Schauspielende benutzen ja im Prinzip ihre privaten Körper als Instrument.“ Das sähe von außen oftmals so aus, als gäbe es dazwischen keine klare Abgrenzung - und würde durch unsensibles Verhalten ausgenutzt. Sie fügt hinzu: „Schauspielende müssen sich ja auch super verletzlich, ganz offen und durchlässig machen.“ Für Kuhn sei es somit essentiell, dass diese Öffnung in einem sicheren Rahmen stattfinden kann: „Der Regie-Beruf muss mit ganz, ganz viel Verantwortungsbewusstsein ausgeübt werden.“


Eine junge Erfolgsgeschichte

„The Case You“ gewann den „Deutschen Dokumentarfilmpreis für Kunst und Kultur“, den „megaherz Student Award“ des „DOK.fest München“, und vor kurzem erst den Preis für den besten Dokumentarfilm beim „Festival Achtung Berlin“. Mit Alison Kuhns erstem Langfilm wurde sogar das diesjährige „Festival de cine alemán“ in Madrid eröffnet. „Ich freue mich wirklich über alle Menschen, die diesen Film angucken. Ich möchte den wirklich einem ganz breiten Publikum zeigen“, so die Regisseurin.

Der Cast von „The Case You“
Der Cast von „The Case You“: Gabriela Burkhardt, Isabelle Bertges, Milena Straube, Aileen Lakatos und Lisa Marie Stojčev (v.l.n.r.). (Foto: Lenn Lamster)

Reaktionen auf den modernen Dokumentarfilm beschäftigen Kuhn: „Ich finde es immer toll, danach mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Viele melden sich auch danach bei mir und erzählen von ähnlichen Vorfällen, die sie erlebt haben.“ Die Kulturschaffende erzählt auch davon, dass ebenso ältere Personen, davon einige Männer, schon nach dem Film zu ihr kamen und sagten, dass er für sie „augenöffnend“ gewesen sei: „Das finden wir als Filmteam immer ganz toll, wenn wir Menschen, die bisher durch ihr privates Umfeld gar keine Berührung mit dem Thema hatten, etwas mitgeben und eine neue Perspektive öffnen konnten.“

Der Regisseurin und Autorin nach sei ihr Projekt „kein klassischer MeToo-Film“. Es gehe nicht nur um sexualisierte Übergriffe, sondern um Machtmissbrauch generell. Dies zu vermitteln schafft die 26-Jährige auf bemerkenswerte Art und Weise. Selten riss mich ein Film im Dokumentarformat derartig mit. „The Case You“ ist mit starken Bildern, kreativem Editing (Christian Zipfel) und sensibler Regieführung ein vielversprechender Beginn Alison Kuhns Karriere als Filmemacherin.


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